: Libellen, Delfine und Schweiß
Wahre Lokale (30): Das märchenhaft hingegossene „Lake Palace“ im indischen Udaipur
Es gibt Lokale, die besucht man nur einmal. Vielleicht sogar nie. Nicht etwa, weil dort ein halbes, warmes Bierchen mit acht Mark fünfzig zu Buche schlägt – wie im „Parkcafé“, dem Münchener „Szenetreff“ und „Nobelschuppen“. Auch nicht, weil die Kellner sich eisig gerieren gleich den Schließern einer Haftanstalt – wie in der legendären Marburger Pizzeria „Alfredo“.
Nein, manche Lokale besucht man meistens nie, weil sie acht Flug- und nochmal acht Busstunden entfernt sind. Weil sie inmitten eines Sees liegen, dessen keimverseuchte Gewässer von heiligen Krokodilen bewacht werden. Das „Lake Palace Restaurant“ im indischen Udaipur ist ein solches Lokal.
Märchenhaft hingegossen wie eine orientalische Entsprechung von Neuschwanstein. Was Märchenkulisse sein will, braucht eine Legende. Und so gibt es auch für Udaipur eine schöne Sage mit Maharadschas, schönen Frauen, Libellen, Delfinen und heiligen Männern – aber das ist indischer Unsinn.
Tatsächlich gab es in Udaipur nie einen See, schon gar nicht in mystisch vernebelter Vorzeit. Tatsächlich war es Jagat Singh II., der im Jahre 1757 nicht wusste, wohin mit all den Rupien. Also baute er seinen Mätressen einen Palast, ließ kurzerhand den See anlegen und schenkte dortselbst einer ausgesucht aggressiven Familie von Alligatoren die Freiheit – eine geschicktere, wenn auch aufwendigere Lösung als der Keuschheitsgürtel.
Dem Rucksackreisenden ist das herzlich gleichgültig. Der Rucksackreisende stolpert nachts durch staubige Gassen, sucht sich ein enges Quartier, wirft einen Blick auf das umspülte Juwel und denkt: „Auch haben!“, am besten gleich zum Frühstück.
Nähert man sich dem Lokal schwimmend wie einst Roger Moore in „Octopussy“, begegnet einem das Personal zunächst reserviert, ja nachgerade abweisend. Die Füße in schwammigen Algen, paddelnd zwischen toten Hunden und Plastiktüten, sucht man vergebens nach einer Leiter in der Mauer. Da, die Rettung, der Kellner! Subkontinentale Gastfreundschaft ist sprichwörtlich, das sollte man wissen: Alles ist „No problem!“, Zustimmung wird allenthalben mit Kopfwackeln angezeigt, Ablehnung mit bedächtigem Nicken. Mit einem roten Turban um den Kopf lehnt der Kellner also an der Brüstung, blickt aus schwarzen Inderaugen interessiert hinab auf die prustenden Schwimmer, nickt generös und ruft: „You are not allowed to swim here, Sir!“
Im nächsten Anlauf also nehmen wir das Boot. Es braucht keine Minute bis zur Anlegestelle. Dort steht wieder der Kellner. Dort stehen viele Kellner, die alle beinah identisch aussehen: Roter Turban, weiße Uniform mit goldenen Knöpfen und dem gewachsten Kaiser-Wilhelm-Bart der britischen Kolonisatoren. Weiße Zähne, „no problem!“, Kopfwackeln, dann: bedächtiges Nicken. Wir stehen nicht auf der Gästeliste (heilig!). Trotzdem kein Problem, fahren wir eben wieder zurück. Suchen uns ein Telefon. Rufen an und reservieren uns ein angenehmes Plätzchen für den Abend.
Zum Sonnenuntergang geht es endlich, endlich durch mosaikgetäfelte Hallen, durch einen marmorgepflasterten Innenhof und vorbei am schlüpfrigen Springbrunnen ins Restaurant – wo uns, diesmal, die Armee fröhlicher Kellner mit offenen Armen empfängt.
Kein Wunder. Für das exklusivste Lokal in einer Nation mit einer Milliarde Einwohner ist die Gaststätte an diesem Abend recht spärlich besucht. Am Nebentisch müht sich ein amerikanisches Pärchen auf Hochzeitsreise mit einer Languste ab. Eine gealterte Globetrotterin mit Klingelglöckchen ums Fußgelenk stellt sich uns als Grundschullehrerin vor. Aus Berlin. So klein ist die Welt, so spannend.
In der Dritten Welt herrschen bekanntlich fiese Temperaturen. In Schwellenländern wie Indien läuft zwar die Klimaanlage, aber nur bis der Dieselgenerator ausfällt. Das tut er dann auch zuverlässig. Und der freundliche Kellner erklärt lächelnd, sein Land ähnele dem dort hergestellten Motorrad der Marke Enfield: „Es ist sofort alles kaputt, aber dann hält es eine Ewigkeit.“
Der Schweiß tropft dem Turbanträger aufs buchstäblich silberne Tablett, auf dem wir jetzt unser Bier gereicht bekommen. Bier! Aus weltanschaulichen Gründen überall im Lande höchstens hinter vorgehaltener Hand ausgeschenkt, gibt es Bier hier in Rein-, nämlich Flaschenform. „Kingfisher“ heißt diese Limonade mit der Wirkung von – Bier! Mit der leicht modifizierten Wirkung von indischem Bier. Denn später springen Delfine aus dem See und drehen Pirouetten, während schlanke, meterlange Libellen verdächtig behände über das Wasser huschen.
Es gibt Lokale, die besucht man nie. Selbst wenn man tatsächlich da war, hat man sie doch nur geträumt. ARNO FRANK
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