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Erschöpfte Utopie

Zeitgeschichte im Fernsehsessel (Teil 4): Plötzlich waren Kohl und die Privatsender da. ARD und ZDF hielten mit Logos und Serien dagegen

von KARL WACHTEL

Dem Pragmatismus folgte die Durchschnittlichkeit – der Fantasie das Einerlei. Der schwarze Riese Helmut Kohl betrat die Szene – und sollte sie für lange Zeit nicht wieder verlassen. Seine Vorstellungen von der „moralisch-geistigen“ Wende und deren konsequente Umsetzung in Gesellschaft und Politik hinterließen Blässe, Kälte und Ratlosigkeit. Die Krise des Wohlfahrtsstaats ließ utopische Energien erschöpft zurück, selbst bei den Intellektuellen und der fortschreitend kommerzialisierten Sub- und Alternativkultur. Ohne große Gegenwehr ließ man es zu, dass die Schnitte in die „soziale Hängematte“ – in den Siebzigerjahren schon angesetzt – jetzt mit Entschlossenheit fortgesetzt wurden. Warum sollte sich da gerade das Fernsehen empfindlich zeigen oder prüde tun?

Obst und Spiele

Tat es auch nicht! Richtiges Fleisch konnte man dort plötzlich sehen. Keine verhuschte Brustwarze, sondern ausgeleuchtete Silikonbrüste dekoriert mit allerlei Gartenobst. „Tutti Frutti“ – eine Spielshow, die dem Zuschauer nichts abverlangte und lediglich den männlichen Speichelfluss beschleunigte. Mittendrin Hugo Egon Balder als kleiner Sex-Zampano, eingerahmt von Playmate-Abziehbildern, der Zoten und Länderpunkte verteilte. – Das Privatfernsehen war da!

RTL plus machte 1984 den Anfang, Sat.1 folgte umgehend, und danach gab es kein Halten mehr. Sie hatten es geschafft. Wir mussten die Welt vor dem Fernsehen aussitzen. Wir stritten mit im Kampf um Übertragungsrechte, fühlten uns betroffen oder betrogen beim An- und Abkauf von TV-Stars – und waren gezwungen, unsere Zeitbudgets neu zu kalkulieren.

Fernsehen war allgegenwärtig, keine Lücken mehr, keine Verschnauf- und Erholungspausen. Die Fernbedienung als modernes Metronom gab von nun an den Takt an: Videotext, Kabelfernsehen, Satelliten-TV. Eins plus, 3sat, Sat.1, RTL plus, Tele 5, bald auch Pro 7. Es folgten Konflikte um Sponsoren und Schleichwerbung, Product-Placement, Qualitätsdebatten. Wir, die wir längst keine Fernsehkinder mehr waren, drückten noch mal die Schulbank, um uns wieder zurechtzufinden.

Bei so viel Unübersichtlichkeit tat es gut, dass die öffentlich-rechtlichen Anstalten endlich klärend eingriffen: Das ZDF verankerte sein Senderlogo auf ewig oben links, die ARD fand kurze Zeit darauf ebenfalls Gefallen daran. Das Zweite – ohnehin immer etwas zentralstaatlicher als die nach politischer Couleur geteilte ARD – bekannte Farbe und platzierte zum Programmschluss die Nationalhymne in Schwarzrotgold. Und wieder blies das Erste mit ins nationale Horn.

Die tatsächliche Orientierungshilfe, um den Fernsehalltag zu strukturieren und in der veränderten Welt eine Heimat zu finden, gaben uns Serien. Was für eine Wohltat, als wir uns im kleinen Hunsrückdorf Schabbach in Edgar Reitz’ „Heimat“ (1984) wie in einem Uterus einrichten konnten und im „Hermännchen“ unser Alter Ego wieder entdecken wollten.

Was für eine Erhellung, als die erste Seifenoper „Lindenstraße“ uns wöchenlich das wieder zurückgab, was wir so lange vermisst hatten: authentischen Alltag mit all seinen Nöten, Sorgen, Freuden und Banalitäten – und dank Mutter Beimer – gluckenhafte Nestwärme und neurotische Mutterliebe. Was für rekonvaleszentes Programm, als wir uns in der „Schwarzwaldklinik“ die Wunden lecken konnten, wo die weißen Kittel von Professor Brinkmann und Co. so sauber waren, dass uns kein schmutziges Virus im immer grünen Glottertal erreichen konnte.

Fast schon ein Wunder, dass es neben den so genannten Kultserien andere, die die Gesellschaftskritik der 70er-Jahre spielerisch fortschrieben, schafften, den Zuschauer aus dem verschriebenen Heilschlaf wachzurütteln: Die zweite Staffel von „Liebling Kreuzberg“ (1986) von Jurek Becker mit Manfred Krug, die dem Berliner Kleinbürger- und Proletenmilieu auf die Finger schaute, und Helmut Dietls Antipode „Kir Royal“ (1986), in der Franz Xaver Kroetz und Dieter Hildebrandt die Münchner Schickimickis aufs Klatschreporterkorn nahmen.

Auch die Enterbten bekamen endlich wieder einen Rächer. „ZAK“ (1988) hieß das neue Magazin und mit Desireé Bethge und später Friedrich Küppersbusch begann der kurzweilige Abschied vom traditionellen Politjournalismus. Auf Diskurs und staatstragende Diskussion folgten intellektuelle Provokation und beißende Satire.

Doch das Fernsehen startete auch einen Rachefeldzug gegen uns und gab sich immer weniger als Wolf im Schafspelz. Hatten wir es zu oft kritisiert, ignoriert oder einfach in die Besenkammer verbannt? So wie die Politik zu den Enkeln zurückkehrte, besann es sich auf die Anfänge, als es die Menschen unterhalten wollte, mutierte das Medium zu einem gewaltigen Vergnügungsstaubsauger: das Fernsehen als medialer Terminator, der versucht, die „geistige Wende“ in grellen Farben und schrillen Tönen zu erzwingen.

Fast Food auf Bestellung in jeder Menge. Politische Possen, Kriege, Leid und Freude. „Traumhochzeit“ (1992) mit Linda de Mol, Skandale („Ich bekenne“, 1993), Sex, Thrill („Polizeireport“, 1992), Kaffeemaschinen und andere Preise („Das Glücksrad“, „Der Preis ist heiß“, 1988), Gewinnspiele, die den Suizid billigend in Kauf nehmen („Die 100.000-Mark-Show“, 1993).

Kollektives Geplapper

Wir wussten dank „Explosiv“ (1992) und „Brisant“ (1994) plötzlich alles über unsere Nachbarn, retteten Menschenleben per TED, verziehen kollektiv – und plapperten über alles. Zunächst noch leidlich politisch über „Die Woche“ mit Geert Müller-Gerbes (1988) oder beim „Talk im Turm“ (1990), doch dann folgte „Hans Meiser“ (1992), und der Damm war gebrochen.

Und noch ein Damm brach 1989: Die Mauer sackte in sich zusammen. Die Menschen aus Ost und West lagen sich wiedervereint in den Armen. Wir konnten es mit unseren eigenen Augen sehen, legten die Fernbedienung kurz zur Seite und hielten den Atem an. Für einen Augenblick ließen wir das Fernsehen unbeobachtet zurück, öffneten die Tür und gingen wieder auf die Straße . . .

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