piwik no script img

Sprachphilosophische Großtheorie

Robert E. Brandoms „Expressive Vernunft“: Nicht der Konsens der Sprecher, sondern die Differenz ihrer diskursiven Perspektiven erzeugt Objektivität

von DAVID LAUER

Philosophische Großtheorien sind rare Erscheinungen, doch es gibt eine neue zu bestaunen: Unter dem Titel „Expressive Vernunft“ hat der Suhrkamp Verlag Robert Brandoms „Making It Explicit“ in deutscher Übersetzung vorgelegt, sechs Jahre nach der Erstpublikation in den USA. Das Buch wagt die Konstruktion einer neuen, einheitlichen Perspektive auf einige alte Fragen: Was ist das Wesen der Sprache, des Denkens, der Vernunft? Was unterscheidet uns als sprechende, denkende und vernünftige Wesen von anderen fühlenden Wesen oder von rechnenden Maschinen? Brandom, Professor in Pittsburgh und Schüler Richard Rortys, verknüpft dabei das logische Raffinement der sprachanalytischen Tradition mit einer spekulativen Vision, die sich ganz offen auf Hegel beruft. Das Ergebnis ist „systematische Metaphysik“: eine umfassende Theorie der Sprache und des Geistes, die sich in einem radikal neuen philosophischen Vokabular ausspricht.

Im Kern von Brandoms Projekt liegt die Frage nach der Beziehung von Geist und Welt: Wie bilden unsere Worte die Welt ab? Man könnte auch fragen: Was muss mit einem artikulierten Laut aus menschlicher Kehle geschehen, damit er Bedeutung erlangt, damit der Laut zum Zeichen wird? In den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts brachte Ludwig Wittgenstein eine Idee ins Spiel, auf die sich seither zahlreiche Philosophen berufen haben: Die Bedeutung eines Ausdrucks hänge von dem Gebrauch ab, der von ihm in sozialen Praktiken gemacht wird, die Sprachspiele genannt wurden. Doch es gab keine überzeugende Ausarbeitung dieser plausiblen Idee, bis „Making It Explicit“ erschien. Es handelt sich um den heroischen Versuch, im Detail zu erklären, wie artikulierte Laute Bedeutung erlangen, allein indem Lebewesen auf eine bestimmte Weise mit ihnen umgehen.

Brandom erzählt die Geschichte einer Ethnologin, die fremde Wesen beobachtet. Unter welchen Bedingungen wäre sie geneigt, die Praktiken dieser Wesen als diskursive Praktiken zu interpretieren? Wie müssten diese sich verhalten, damit ihre Laute als interpretierbare Zeichen aufgefasst werden könnten? Zunächst nimmt Brandom hier eine von Kant, Frege und Wittgenstein gebildete Tradition auf: Die beobachteten Wesen müssen zueinander normative Einstellungen einnehmen, also ihr Verhalten wechselseitig implizit gutheißen oder korrigieren. Sie beginnen zu sprechen, wenn es ihnen gelingt, ihre normativen Einstellungen zu explizieren. Laute gewinnen Bedeutung, wenn ihr Gebrauch die normativen Festlegungen derjenigen, die sie gebrauchen, systematisch beeinflusst. Eine normative Festlegung gehe ich ein, wenn ich eine Behauptung äußere, denn man behandelt mich nun als normativ verpflichtet, berechtigt oder unberechtigt zu gewissen weiteren Behauptungen. Behaupte ich, dass Brandom ein lebender Philosoph ist, so bin ich dadurch zu der weiteren Behauptung verpflichtet, Brandom sei ein Mensch, verfüge über einen Grund für die Behauptung, Brandom schreibe gelegentlich Bücher, verfüge aber über keine Berechtigung mehr zu der Behauptung, Brandom sei letztes Jahr gestorben. Im Allgemeinen würde man sagen, dass solche und ähnliche „inferentiellen“ Beziehungen zwischen Äußerungen gerade von ihrer Bedeutung abhängen, doch Brandom versucht den umgekehrten Weg: Nicht die Bedeutung bestimmt, in welcher Weise eine Äußerung mit anderen verknüpft ist, sondern die Position einer Äußerung in einem Netzwerk zahlloser anderer möglicher Äußerungen bestimmt, was sie bedeutet. Wir verstehen eine Äußerung, indem wir ihre inferentiellen Konsequenzen für den Sprecher und uns erfassen. Die Bedeutung einer Behauptung ist ihre pragmatische Signifikanz, ihre Fähigkeit, als Grund für oder gegen andere Behauptungen zu dienen.

An einer solchen Sprachpraxis teilzunehmen impliziert die Fähigkeit, im wechselseitigen Austausch von Sprechakten eine Art diskursives Konto darüber zu führen, wer worauf festgelegt und wer wozu berechtigt ist. Da die Berechtigungen und Festlegungen auch zwischen Sprechern übertragen werden können, führt jede Äußerung zu zahllosen Transfers von normativen Festlegungen und Berechtigungen auf den diskursiven Konten der Teilnehmer: ein irrwitzig komplexes Hin- und Herschieben, Kreditgeben und -zurückfordern, Reichwerden und Bankrottgehen diskursiver Spekulanten. Diese Praxis ist das Sprach-Spiel, das Spiel des Gebens und Forderns von Gründen. Sprechen und verstehen können heißt bei diesem Spiel mitspielen können. Ein vernünftiges Wesen sein heißt den Punktestand dieses Spiels erfassen können – to keep the score, wie es im Original heißt. Nur amerikanische Philosophen entlehnen die zentrale Metapher einer Theorie der Rationalität dem Baseball.

Am Ende entpuppt sich die Theorie als eine Theorie des menschlichen Geistes. Die Praktiken, die das Buch expliziert, sind unsere Praktiken. Die Vernunft, die uns von allen anderen uns bekannten Wesen unterscheidet, ist eine expressive Fähigkeit. Wir können das Spiel des Gebens und Forderns von Gründen nicht bloß spielen, sondern auch unsere eigenen Spielregeln explizieren und darin ausdrücken, wer wir sind: „Wir machen uns selbst explizit als Explizitmachende.“

Brandoms radikal pragmatistisches Programm führt Sprache, Denken und Bedeutung konsequent auf nichtsprachliches Verhalten zurück. Um aus dem Programm eine Theorie zu machen, treibt Brandom die Strukturanalyse der diskursiven Praktiken auf hunderten von Seiten bis in feinste Einzelheiten voran. Dabei reformuliert er en passant mehr oder weniger den kompletten Problembestand der Sprachphilosophie in seinem normativ-inferentiellen Vokabular. Gleichwohl ist eine Aufgabe zentral: Seine Theorie muss unsere alltagsrealistischen Intuitionen wieder einholen. Wir verstehen unsere Äußerungen nun einmal als Repräsentationen objektiver Dinge und Tatsachen. Welche Strukturen unserer diskursiven Praxis sind dafür verantwortlich? Brandoms innovative Beantwortung dieser Frage ist der atemberaubendste Teil der Theorie (und das Einfallstor für seine Kritiker): Der Anspruch auf Objektivität und Wahrheit erweist sich als ein Effekt der inferentiellen Feinstruktur unserer sozialen Kommunikations- und Interpretationspraxis. Unser Vermögen, einander zu verstehen, beruht auf der Fähigkeit, zwischen verschiedenen diskursiven Perspektiven zu navigieren. Wir behandeln uns gegenseitig als berechtigt, Ausdrücke in unseren Äußerungen durch andere, äquivalente Ausdrücke zu ersetzen. Brandom zeigt, wie diese Praxis den Begriff objektiver Gegenstände erzeugt, die wir aus verschiedenen diskursiven Perspektiven als dieselben identifizieren können. Ähnlich wird die Objektivität des Wahrheitsanspruchs als ein Effekt beschrieben, der sich gerade der radikal durchgehaltenen Differenz diskursiver Perspektiven und nicht etwa einem Konsens von Sprechern und Interpreten verdankt.

Es wäre dem Buch zu wünschen, dass es in vielen Disziplinen gelesen wird, obwohl es zweifellos ein monsterpiece ist, wie die Amerikaner sagen. Was aber Brandoms Bemühen um Verständlichkeit geschuldet ist: Zu Beginn jedes größeren Abschnitts nimmt er sich Zeit, seine zentralen Überlegungen dem Leser wieder und wieder einzuhämmern. Trotzdem bleibt das Buch, kurz gesagt, dick und schwierig – das Schicksal der großen Entwürfe.

Als Kant 1781 seine „Kritik der reinen Vernunft“ publiziert hatte, entschloss er sich nur zwei Jahre später, eine Art Light-Version auf den Markt zu bringen: Zu wenige Leser hatten die unübersichtliche Theorie durchschaut. Ähnlich hat Brandom reagiert: Sein jüngstes Buch, „Articulating Reasons“, vor wenigen Wochen in den USA erschienen, bereitet die Kerngedanken von „Making It Explicit“ für ein nicht fachlich vorgebildetes Publikum auf.

Robert B. Brandom: „Expressive Vernunft“. Übersetzt von Eva Gilmer und Hermann Vetter. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2000, 1.014 Seiten, 148 DM

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen