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Unvermeidliche Verzögerungen

Erst jetzt, 55 Jahre nach Kriegsende, beginnen Hochschulen damit, das NS-Unrecht aufzuarbeiten. Schnelle Rehabilitation genossen Persönlichkeiten wie Thomas Mann. Fälle entzogener Doktortitel oder relegierter Studenten wurden verschleppt

von NICOLE MASCHLER

Für die neuen Herren im Haus hatte Karl Barth nur Spott übrig. Mit dem Hinweis, er habe in seinen Vorlesungen auch vorher nicht gegrüßt, verweigerte der renommierte Theologe den „Deutschen Gruß“. Die Macht der NS-Führung bekam der streitbare Protestant bald zu spüren. Wegen „Widersetzlichkeit“ wurde er im Juni 1935 in den Ruhestand versetzt. 1939 leitete die Uni Münster gar ein Verfahren ein, um ihrem bekanntesten Kopf den Dr. h. c. zu entziehen.

Weil die große Mehrheit der Professoren von der Nazi-Bewegung nichts wissen wollte, wurde die Hochschule bald zum „Frontabschnitt“ erklärt. Nazi-Vordenkern wie Hans Joachim Düning galt die Universität als Bereich, „dem in den ersten Jahren nach der nationalsozialistischen Revolution die größte Bedeutung innerhalb des Gesamtangriffs beizumessen ist“.

Damit war Humboldt tot, es lebte die „völkisch-politische Universität“. Rund 1.700 Professoren, Dozenten und Assistenten verloren während des Dritten Reichs Amt und Würden. Doch die deutsche Hochschule schwieg auch dann noch, als der Nationalsozialismus längst am Ende war. Erst heute, 55 Jahre nach Kriegsende, beginnen Universitäten damit, ihre NS-Vergangenheit aufzuarbeiten.

Vor gerade zwei Wochen hat der Senat der Westfälischen Friedrich-Wilhelms-Universität die „Säuberungen“ der Nazizeit für nichtig erklärt: „Diese Akte der politischen Verfolgung verletzen die Menschenrechte. Die Universität hat sich an den Opfern dieser Willkürmaßnahmen mitschuldig gemacht und bekennt sich voller Scham zu ihrer Verantwortung.“ Drei Monate lang hatten Historiker um Prorektor Hans-Ulrich Thamer Archive und Akten durchforstet. Fündig wurden sie beinahe in jeder Fakultät: Insgesamt gab es zehn Aberkennungen von Doktorgraden, 35 Entlassungen Münsteraner Hochschullehrer und Mitarbeiter sowie zwölf Relegationen von Studierenden aus rassischen und politischen Gründen. Die Unrechtsfälle zu rekonstruieren ist indes schwierig. Nur wenn sich die Opfer gegen die Zwangsmaßnahmen wehrten, so berichtet Historiker Thomas Großbölting. lässt sich überhaupt noch etwas in den Archiven finden.

Unrechtssystem Uni

Detektivisches Gespür war notwendig, um allein die nackten Zahlen zu finden. In Promotionsakten, in denen die Aberkennung nachträglich vermerkt wurde. In NS-Zeitschriften. Oder in den so genannten schwarzen Büchern der Uni Bonn und der Humboldt-Universität Berlin, die andere Hochschulen vor „politisch unzuverlässigen“ und „volksfremden“ Kollegen warnten. „Die Dokumentation“, betont der Sprecher der Universität, Norbert Frie, „soll das Startsignal geben für weitere Untersuchungen“.

Nur widerwillig haben sich die Universitäten zu der eigenen Verstrickung in das Unrechtssystem bekannt. Es dauerte bis 1965, ehe sich mit Marburg die erste Hochschule zu den Willkürakten der Nazizeit äußerte. Zwei Jahre später wagte sich Gießen an das dunkle Kapitel. Ihnen folgten, erst Anfang der Neunzigerjahre, Hamburg und Frankfurt am Main. Die Humboldt-Universität Berlin und die Universität Bonn erklärten erst im Jahr 1998 Aberkennungen wissenschaftlicher Titel durch die Nazis für ungültig.

Förmliche Rehabilitationen strengten die Hochschulen nur an, wenn wie im Fall Thomas Manns der eigene Ruf auf dem Spiel stand. Bereits zu Weihnachten 1946 etwa übersandte die Philosophische Fakultät Bonns dem Schrifsteller ein erneuertes Exemplar der zuvor entzogenen Promotions-Urkunde. Mann bedankte sich „herzlich und feierlich“ – wie die Universität immer wieder stolz betonte.

Indirekte Rehabilitation

Nach Kriegsende kehrten vertriebene Dozenten vielerorts einfach auf ihre alten Posten zurück. „Das kann man als indirekte Rehabilitation sehen“, sagt Norbert Frie von der Uni Münster.

Die Opfer der nationalsozialistischen Willkür dürften das anders empfunden haben. Sie mussten sich nach der Rückkehr aus dem Exil nicht selten in ihr Amt klagen. „Die Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität hat sich seit ihrer Wiedereröffnung 1945 wiederholt von den Unrechtshandlungen distanziert“, so lautet der Bonner Senatsbeschluss, „und hat diese in den an sie herangetragenen Einzelfällen [Hervorhebung d. Red.] förmlich rückgängig gemacht.“ Von sich aus den Vorgängen der Nazizeit nachzuspüren kam den Hochschulen nicht in den Sinn.

Die Wiedergutmachung kommt beinahe zu spät. „Die Nachforschungen gestalten sich so schwierig, weil uns Aussagen von Zeitzeugen fehlen. Das hätten Historiker vor 50 Jahren machen müssen“, meint Gerald Wiemers, Fachgruppenleiter Hochschularchivare im Verein Deutscher Archivare. So fanden die Historiker in Münster keinen Hinweis, ob die Uni Karl Barth den Ehrendoktor tatsächlich entzogen hat.

Es war die Kultusministerkonferenz (KMK), die im vergangenen Jahr eine erste Bestandsaufnahme via Fragebogen vornahm. Die Adressaten waren unangenehm berührt. „Viele Unis schrieben, dass sie für genauere Informationen mehr Leute an das Thema setzen müssten“, erinnert sich Martina Elschenbroich, die die Umfrage durchführte. Und selbst für diese Einsicht brauchte es den Anstoß von außen. Der Sozialdemokrat Hans-Jochen Vogel, der mit seinem „Verein gegen Vergessen – für Demokratie“ auch die Entschädigung von NS-Zwangsarbeitern beförderte, hatte bei der KMK nachgebohrt. Die Antwort auf seine Frage, wie die Hochschulen nach 1945 die Aberkennung akademischer Grade überprüft hätten, konnte knapper kaum ausfallen: Gar nicht.

Dabei gab es schon auf der ersten Hochschulkonferenz 1945 Vorschläge, wie das nationalsozialistische Unrecht wieder gutgemacht werden könnte. Die Kieler Christian-Albrechts-Universität beantragte, beim neu gebildeten Bundestagsausschuss zur Bereinigung des Reichs- und Bundesrechts die grundsätzliche Wiederverleihung des Doktorgrades anzuregen. Die Uni, so hieß es damals, betrachte es als „unwürdigen Zustand, dass diese Entziehungen noch nicht durch einen Gesetzesakt generell für ungültig erklärt worden sind“.

Doch eine Aufhebung des Nazi-Rechts hat es nicht gegeben, weiß Manfred Heinemann, Leiter des Zentrums für Zeitgeschichte von Bildung und Wissenschaft an der Universität Hannover. „Das wurde im Einzelfall auf Antrag entschieden.“ Viele Inspektoren, so Heinemann, haben diese auf dem Verfahrenswege verzögert. „Daran zeigt sich, dass da ohne Grundlinie verfahren wurde.“ Letztlich blieb es bei der Empfehlung an die Mitglieder, „die Wiederverleihung akademischer Grade (...) herbeizuführen“. Ein Weisungsrecht hat die Rektorenkonferenz freilich nicht. Ihre Beschlüsse sind bloße Eigenappelle.

Auch der Münsteraner Senatsbeschluss ist nicht mehr als Symbolik. „Die Resolution ist ein Zeichen an die Fachbereiche: Werdet aktiv“, so der Sprecher der Uni, Norbert Frie. Formal ist die Wiederanerkennung der Grade Sache der Fakultäten. Eine gewisse Verzögerung, bedauert Frie, sei daher unvermeidlich. Aber noch im kommenden Wintersemester will man in Münster das Thema Rehabilitationen angehen. Zuweilen geht es auch schneller: Theologe Barth, einst als Verräter geschmäht, ziert seit 1970 als Dr. h. c. wieder die Liste der universitären Würdenträger.

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