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„Nie am anderen Ufer angekommen“

„Leben in einer Zeit des allgemeinen Pendelverkehrs“: Ein Gespräch mit dem Berliner Schriftsteller Wladimir Kaminer über Frank Zappa, vietnamesische Gemüsehändler und seinen ersten Erzählband „Russendisko“ – und über die Frage, warum er trotz guter Honorare die Literatur nicht ernst nimmt

Interview HELMUT HÖGE

taz: Wladimir, du gehörst zur so genannten fünften Emigrantenwelle. Wie kamst du 1990 nach Berlin?

Wladimir Kaminer: Ende der Achtziger fuhren viele meiner Freunde und Theaterkollegen ins Ausland und blieben dort. Umgekehrt kamen reiche Ausländer nach Moskau, z. B. Frank Zappa, der die Band Gorki Park auf Tournee schickte. Gorki Park spielten in Peru und Kolumbien und sind seitdem verschollen. Ich arbeitete damals an einem Dostojewski-Stück in einer Theaterwerkstatt. Kurz nach der Premiere flog der Regisseur nach Irland – und kam nicht wieder. Eine Hälfte der Schauspieler setzte sich nach Amerika ab, die andere nach Holland. Unser Direktor meldete sich daraufhin freiwillig zur israelischen Armee und zog in den Golfkrieg. Ich entschied mich, ebenfalls zu verreisen. Am leichtesten und am billigsten war für mich Deutschland: In Ostberlin lebte seit 1980 die beste Freundin meiner Mutter. Sie schickte mir eine Einladung, die Zugfahrt kostete 96 Rubel. Allerdings konnte ich für die Reise kein Geld eintauschen. Die Währungsunion war vollzogen, aber die Wiedervereinigung noch nicht, sodass es keine Ostmark mehr gab – und Westmark nur für Reisende nach Westdeutschland. Ein Freund von mir fuhr eine Woche vorher nach Berlin und reservierte eine Unterkunft für mich: beim Roten Kreuz in Schildow, Haus 3, Zimmer 312. Alles verlief unbürokratisch, sie wollten nicht einmal meinen Namen wissen, ich wurde als „Student männlichen Geschlechts“ registriert. Dann erfuhr ich, dass Juden aus der Sowjetunion „humanitäres Asyl“ in Deutschland bekommen könnten. Daraufhin ging ich ins Polizeipräsidium am Alexanderplatz, bekam dort einen ostdeutschen Fremdenpass und wurde in ein Ausländerheim nach Marzahn überwiesen, in dem lauter Juden aus der Sowjetunion lebten.

Du hast dann auf ABM-Basis bei mehreren Tschechow- und Dostojewski-Aufführungen mitgewirkt. Wann und wie hast du angefangen, auf Deutsch zu schreiben?

1991 habe ich mich erst mal für einen Intensivkurs Deutsch an der Humboldt-Universität angemeldet – und 25 Wochen durchgehalten. Dann bekam ich eine ABM-Stelle als Tontechniker bei einer freien Theatergruppe. Nachdem die Gruppe sich aufgelöst hatte, gründete ich eine eigene und versuchte immer wieder, ein eigenes Theater auf die Beine zu stellen. 1998 hatte ich die Schnauze voll davon. Schon vorher hatte ich auf Russisch angefangen zu schreiben: Reiseberichte des imaginären Wissenschaftlers Kwaszow zum Beispiel, in denen er die Mentalitäten verschiedener Völker schildert. Im Winter 1998 lernte ich in einer Kneipe Bert Papenfuß kennen. Er bot mir an, einen Vortrag über russische Kosmonauten und Künstler zu halten. Ich tat mich zu diesem Zweck mit dem Dichter und Comiczeichner Ilya Kitup zusammen, und wir gründeten die Initiative Neue Proletarische Kunst, die NPK. Mehrmals traten wir damit erfolgreich in Berlin auf, im „Siemeck“ und im „Schokoladen“ z. B. Danach trennten wir uns jedoch wieder. Kitup wollte hohe Kunst, mich zog die Realität an.

Ich kann mich noch an diese ironischen Texte erinnern, über den Alltag eines Künstlers beispielsweise. Hast du sie bereits auf Deutsch geschrieben?

Ja, aber sie waren überhaupt nicht ironisch. Was man hier für Ironie hielt, war pure Freude. Die Helden meiner Erzählungen sind fast alles Freunde von mir. Der russische Bildhauer, die vietnamesischen Gemüseverkäufer, die Nachbarin, die an schwarze Magie glaubt . . . die Welt ist in den letzten zehn Jahren immer kleiner geworden. Man rückt sich derart auf die Pelle, dass kein Raum mehr bleibt, um, sagen wir mal, den Nachbarn zu verändern. Stattdessen brauchen wir Kreativität, damit unser Drang, alles verstehen zu wollen, gebremst wird. Das Schreiben ist für mich in diesem Zusammenhang eine Art Therapie: Ich trainiere damit Nächstenliebe oder so etwas.

Ist das nicht anstrengend, die ganze Zeit aus dem eigenen Erleben Literatur machen zu müssen?

Nein. Ich nehme ja die Literatur nicht ernst. Ich habe keine großen literarischen Ansprüche. Für mich ist das eher ein Witz.

Das waren die Anfänge. Wie ist es jetzt – mit den Mühen der Ebene?

Ich habe inzwischen eine ziemlich große Familie: Eltern, Tanten, Kinder, eine Ehefrau, und permanent ist jemand krank. Richtig zum Schreiben komme ich gar nicht. Der Computer steht im Schlafzimmer – mit Blick auf die Schönhauser Allee und die U-Bahn-Linie 2, die zu unserem großen Bedauern gerade wegen Reparaturarbeiten eingestellt wurde. Ich habe gelernt, die Geschichten erst mal im Stehen zusammenzusetzen. Es dauert eine Weile, bis sie rund sind und ich den richtigen Ton gefunden habe. Nachts tippe ich sie dann auf die Schnelle ein. Neulich gelang es mir sogar, auf diese Weise einen ganzen Roman fertig zu stellen.

Was ist das für ein Roman?

Er heißt „Militärmusik“ und wird hoffentlich im nächsten Jahr erscheinen. Ich versuche darin, mein Leben – von einem staatlichen Jubiläumsereignis zum nächsten – zu beschreiben, bis zu meiner Abreise nach Berlin. Schon als ich geboren wurde, 1967, herrschte im ganzen Land eine feierliche Stimmung: Es war der 50. Jahrestag der Oktoberrevolution.

Hättest du nicht Lust, dir eine Geschichte auch einmal von vorne bis hinten auszudenken?

Nein, überhaupt nicht. Das wäre ja Selbstbetrug. Man kann sich gar nichts ausdenken! Manchmal denkt man, man hat sich etwas ausgedacht, aber dann hat man es – unbewusst – natürlich doch erlebt oder jemand hat es einem erzählt. Oder – das ist dann ganz schlimm – man hat es irgendwo gelesen. Es ist doch so: Jeder von uns glaubt, dass er in sich einen Schatz trägt, ohne den er als Individuum gar nicht vorstellbar wäre. Und von diesem Kapital, von diesem Schatz will er etwas abgeben. Nun ist die Welt so gebaut, dass der eine Mensch nicht am Schatz des anderen interessiert ist – und wer sich eine Geschichte ausdenkt, der will doch eigentlich nichts anderes, als diesen Schatz, der nur für ihn wichtig ist, anderen andienen. Nur die anderen verstehen das nicht und wundern sich nur: „Warum schreibt der das alles auf?“ Ich versuche ja mit meinen Geschichten gerade etwas Gemeinsames zu entdecken und diese Schätze zu umgehen.

Warum heißt dein Erzählband, der jetzt erscheint, eigentlich „Russendisko“?

Nicht nur das Buch, auch eine Tanzveranstaltung, die wir hier in Berlin regelmäßig im Café Burger organisieren, heißt „Russendisko“. Viele meiner Geschichten haben sich real an diesen Abenden ereignet. Im Laufe der Zeit ist deswegen „Russendisko“ für mich zu einem Lebensbegriff geworden: Nach der Perestroika haben viele meiner Landsleute sich rund um die Erde verstreut und treiben nun hin und her. Sie haben sich von einem Ufer abgestoßen, sind aber am anderen nie angekommen. Wir leben in einer Zeit des allgemeinen Pendelverkehrs. Das ist für mich „Russendisko“.

Wie wird es nun aber weitergehen – bis zum Ende: als gereifter Schriftsteller?

In Berlin ist inzwischen ein neues kulturelles Leben entstanden, und ich bin sehr froh, dass ich daran teilnehme. Sei es mit Beiträgen in deutschen und russischen Zeitungen sowie im Rundfunk, sei es auf Berliner Literaturbühnen oder auf meinen eigenen Veranstaltungsreihen – wie der „Russische Zelle“. Dann veröffentliche ich auch noch auf der Internetseite „Art-on“ des Kunstvermittlers Peter Funken. Daraus ist jetzt eine Anthologie mit zehn Berliner Autoren entstanden: „Frische Goldjungen“. Sie erscheint im nächsten Jahr. Aber auch die eigentliche schriftstellerische Arbeit macht mir viel Spaß: Als Literat darf ich zu jedem Scheiß eine Meinung haben, immer wieder für Honorar an Podiumsdiskussionen teilnehmen, an runden Tischen Platz nehmen – und alle hören mir endlich zu.

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