Heilige Brüder, brave Bürger

Die Flüchtlinge bessern ihr Budget mit Drogenhandel auf. Die Anwohner wollen den Knüppel schwingen. Wen soll man da einmauern?

aus Celle JENS RÜBSAM

Dass Bauarbeiter anrücken, wundert niemanden an diesem Mittwoch vergangener Woche im Haus Stech, einem Flüchtlingswohnheim in der Celler Vorstadt. Zu tun gibt es allerhand.

Auf den Fluren versagt das Licht, und vom Gemäuer bröckelt der Putz. In den Küchen rösteln die Spülbecken, „privileg“ ist nur der Name der Elektroherde. In den Nasszellen lauern heruntergepurzelte Fliesen, und in den WCs steht die Scheiße. Die Fensterscheiben sind blind, die Rahmen verwittert. Arbeit gibt es hier für Wochen.

Doch was die Bauarbeiter an der Harburger Heerstraße 3 an diesem Tag zu erledigen haben, ist fix gemacht – nicht mal einen Blick ins Haus müssen sie dafür werfen. Sie heben Gräben aus. Sie gießen Fundamente. Eine 1,80 Meter hohe Mauer soll künftig das Celler Flüchtlingsheim umgeben, ein gewaltiges Stück Beton, versehen obendrein mit Stacheldraht, wenn es nach dem Willen der Betreiberfirma geht.

Die Tag-und-Sonnenschein-Aktion in der „romantischen Fachwerkstadt Celle“ (Eigenwerbung) hat Symbolwert. Erstmals werden in Deutschland Flüchtlinge ummauert – mit freundlicher Genehmigung eines gesamten Stadtrates. Dass Staatsdiener hierzulande Asylsuchende gern hinter Beton wissen, ist nichts Neues. Ehemalige Kasernen gelten deutschen Kommunalpolitikern seit Jahr und Tag als bevorzugter Abschiebeplatz.

Was noch nicht ist wie ein Maßregelungsort, wird zu einem gemacht. Schutzwall, Eingangsschleuse, Ausweiskontrolle, Sicherheitsdienst – so das Maßnahmenpaket der Stadt Celle zur Eindämmung krimineller Aktivitäten.

Einst Hotel, heute Bruchbude

Bundesstraße 3, von Celle in Richtung Hamburg. Kurz ist die Strecke von der Stadtmitte hinaus in die Vorstadt zum Haus Stech, einst bürgerliches Hotel, jetzt Bruchbude. Am besten, man fährt gleich ein Stück weiter, biegt ab und nähert sich der Unterkunft von hinten, über die Hüttenstraße. Die führt in ein gediegenes Wohngebiet – und am Ende zur Rückseite des Heims.

In der Hüttenstraße gehen die des Weges, die jedes fremde Auto beäugen, die sich die Kennzeichen notieren, die an Bürgerwehr denken. Wer Gerhard Flader fragt, wähnt sich nicht mehr in einem beschaulichen Celler Weg, sondern in der Bronx von New York City. Drogen, Spritzen, Waffen, Dealen, Anmachen, Drohen – Schützenbruder Flader „hat mit den Schwarzen alles schon erlebt“. Seine Frau „traut sich wegen denen nicht mehr auf die Straße“, die Kinder „wagen sich wegen denen nicht mehr, den Schulweg zu nehmen“, und „ein Schwarzer hat zu mir einmal gesagt: ‚Du sollst nicht Nummer aufschreiben, sonst du sein ein toter Mann.‘“

Wer bei den Falks in der Stube sitzt, hört von Lärmbelästigung – „Die fahren aus Hamburg und Hannover hier vor und stehen mit ihren Autos Schlange –, erfährt von Diebstahl – „Aus einem Garten haben die Tisch und Stühle geklaut“ –, bekommt Briefe ans Rathaus gezeigt – „Ziehen Sie eine Mauer!“ – und vernimmt entschlossene Kampfansagen: „Wenn nichts passiert, schließen wir uns zusammen und nehmen die Knüppel.“

Wer Christa Hoffmann am Gartenzaun trifft, der notiert sich: „Dem Herrn Flader ist noch nie etwas passiert. Ich vermute, die Nachbarn hier fühlen sich nur belästigt, weil das Ausländer sind, weil sie nichts Fremdes in ihrer Nähe dulden wollen.“

Das Fremde steht ein paar Meter weiter beisammen, quatscht, lacht, hört laut Musik; sie tun das, was Jugendliche machen, wenn es Abend wird in Deutschland. Am Hinterausgang von Haus Stech treffen sich die Flüchtlinge aus Schwarzafrika und dem Kosovo. 59 Flüchtlinge, anerkannte und noch im Verfahren stehende Asylbewerber, leben im Heim an der Harburger Heerstraße, darunter drei Familien, der Rest ist Single, männlich und nicht älter als 25 Jahre – dass das nicht alles heilige Brüder sind, ist wahrscheinlich.

Es dröhnt. Ein Auto kommt die Hüttenstraße entlanggerast, ein Deutscher steigt aus, geht ins Haus, ein paar Worte werden gewechselt. Schnell ist man sich einig. Noch schneller verschwindet der Jugendliche wieder. Er hat, was er will.

Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz, Hehlerei, Bedrohung – die Liste mit den eingeleiteten Strafverfahren, die der städtische Polizeisprecher präsentiert, ist lang. 133 Einträge, beginnend im Januar vergangenen Jahres und endend am Donnerstag dieser Woche, sind auf seinem Papier notiert. Dass fast nichts zur Anklage kommt, „frustriert die Kollegen natürlich ganz schön“.

„Das Objekt ist ein Schwerpunkt des organisierten Drogenhandels“, sagt der Betreiber des Heimes. „Das ist ein bodenloser Sumpf“, empört sich ein Kriminalhauptkommissar in der Lokalzeitung. „Prostitution, Rauschgifthandel und offene Gewalt“, titelt das Blatt und peppt die Story auf mit zwei Spritzen, hauchzart unter den Text gelegt.

Halali in Celle. Stimmungsmache auf Niedersächsisch. Teufelchen spielen in der Puppenstubenstadt. „Für Prostitution“, sagt der Polizeisprecher, „haben wir gar keine Anhaltspunkte.“

Am 10. Juli rückt die Celler Polizei zur Razzia ins Haus Stech aus. Ein Großaufgebot prescht in die Vorstadt. Der Fund: 96 Gramm Kokain, 14 Fahrräder, zwei Koffer mit neuwertigen Textilien, tragbare CD-Player und Handys. Dass mit dem Fund etwas nicht stimmen kann, ist für die Beamten klar. Wieso die sich „kleiden können wie die Fürsten“, warum die sich „Designerklamotten und Handys leisten können“, fragt sich der Polizeisprecher verwundert.

Eine Razzia, ein „spektakulärer“ Fund, zwei Tage später eine noch spektakulärere Anweisung: Was der Stadtrat bereits im Februar beschlossen hat, hat nun größte Eiligkeit: Der Mauerbau muss beginnen, „um die von der Einrichtung ausgehenden massiven Belästigungen für die Anwohner zu reduzieren“, wie es aus dem Rathaus tönt.

Hier sitzen die Ratsmitglieder an jenem 17. Februar in trauter Runde beisammen, Punkt 11 ist der Situation im Flüchtlingsheim gewidmet. Der SPD-Fraktionsvorsitzende redet von „Kinderprostitution und Rauschgifthandel“, von „Sicherheit und Ordnung“ und von der „gebotenen Härte des Gesetzes“, mit der zu bestrafen sei. Einstimmig wird der Bau beschlossen. 120.000 Mark finden sich für die Maßnahme im städtischen Haushalt, in dem bisher keine Mark für Flüchtlingsarbeit auftauchte. 33.000 Mark monatlich sind plötzlich für einen Sicherheitsdienst übrig im Säckel, wobei der Aufsichtsposten seit einem Jahr vakant ist. Die Forderung nach einem Betreuungskonzept wird in den Beschluss noch eingefädelt. Da schnüren auch die Grünen das Paket mit zu.

Müssen anderswo Ausländer vor fremdenfeindlichen Übergriffen geschützt werden, werden in Celle die deutschen Nachbarn vor den Flüchtlingen abgeschottet.

„Biedermännner und -frauen“, schreibt der Niedersächsische Flüchtlingsrat, „verantwortlungslose Politiker“, tadelt die Grüne Bundestagsabgeordnete Claudia Roth, „Rassisten“, hallt es aus der linken Ecke – was an alle Celler Stadträte gerichtet ist, trifft eine ganz besonders: Georgia Langhans, 53, die grüne Fraktionsvorsitzende im Rat.

Eine adrette Frau, rot das Haar, schick die Kleidung, als „selbstbewusst“ und „durchsetzungsfähig“ beschrieben von anderen, eher unsicher in diesen Tagen. Wer sich den Vorwürfen ausgesetzt sieht, er schaffe „ein Getto“ (Celles Diakoniepastor) und baue „ein kleines Gefängnis“ (Bürgerinitiative), dem bleibt nur die Wahl: Zurückrudern? Oder rechtfertigen? Georgia Langhans tut das eine ein wenig, das andere hartnäckig.

Sie spricht von einer „falschen Symbolik“, von dem Wort Mauer, das „unschöne Assoziationen weckt“. Sie sagt aber auch: „Wir wollten aus der Situation herauskommen, bevor sie eskaliert.“ Und dass der Beschluss sich „gegen kriminelle Handlungen, nicht gegen die, die da leben“ richte. Dass sie als Grüne nicht wollten, dass „das Flüchtlingsheim in die Pampa verlegt wird“. Eine Überprüfung dieser Alternative hatte die FDP in jener Februar-Sitzung gefordert: Flüchtlinge an die Peripherie der Stadt. Der Antrag wurde mit Mehrheit der Konservativen angenommen. Noch ist das Thema also nicht vom Tisch.

Was auf dem Tisch ist: Fragen, die sich aufdrängen. Wird mit der Mauer nicht ein verheerendes Zeichen gesetzt, gegen die Flüchtlinge? Wird nicht Sippenhaft betrieben? Werden nicht auch jene gemaßregelt, die nicht kriminell sind? Und vor allem: Geht die Mauer nicht an den Ursachen für den sozialen Brennpunkt Haus Stech vorbei?

Wer hier durch die dunklen Flure geht, in die Zimmer schaut, in die ranzigen Küchen und schmuddeligen Nasszellen, wer die jungen Männer sieht, die morgens so aufstehen, wie sie abends zu Bett gegangen sind, und die sich tagsüber durch die Langeweile trotzen, der ahnt Gründe. Die Enge in einem Heim, die zu Aggressionen führt. Das Asylbewerberleistungsgesetz, das ihnen Ausbildung und Arbeit untersagt. Die materielle Situation, die Kleinkriminalität geradezu herausfordert. „Die Mauer wird die Probleme nicht lösen“, sagt Georgia Langhans. Ihre einzige Hoffnung: dass sie zur Befriedung der Anwohner beiträgt. Nicht viel für ein so symbolträchtiges Bauwerk.

Keine Bündnisse, nichts

Vier Aktive zählen die Celler Grünen. Flüchtlingsarbeit leisten sie nicht. „Wir schaffen es einfach nicht“, heißt es. Der Diakoniepastor leitet seit Jahren einen Arbeitskreis Ausländer, heute treffen sich hier nur noch ein paar Kurden. „Vom Anliegen her machen wir keine Flüchtlingsarbeit“, sagt er. Hilfe ist immer nur Notfallhilfe. Die Wohlfahrtsverbände klagen über ihre finanzielle Lage. Die AWO-Flüchtlingsarbeit ist auf ein Minimum zurückgeschraubt. Nur wochenanfangs reist jemand aus Hannover für ein paar Stunden an. Die Linken aus dem „Bunten Haus“ sind vollauf mit den Rechtsextremisten in der Region beschäftigt „Da haben wir genug zu tun“, sagen sie. Im Stadtrat gibt es keine Fürsprecher. „Dass die Stadt nicht mehr tut, ist eine politische Entscheidung des Rates“, heißt es. Seit 50 Jahren beherrschen die Konservativen Celle. Eine Umtauschbörse existiert nur noch in der Erinnerung einiger Aktivisten. Wer als Celler Flüchtling Lebensmittelgutscheine gegen Bargeld tauschen will, dem bleibt nichts anderes übrig als der Weg zum Abzocker: Verkaufen zum Minderpreis. Wer Sozialhilfe kriegt, der muss mit guten 520 Mark auskommen.

„Es ist alles futsch“, sagt der Pastor. Kein Bewusstsein mehr für Fremde in der Stadt. Kein Einsatz mehr für Flüchtlinge. Keine Bündnisse. Nichts.

Im Flur des Hauses Stech hängt ein großer Zettel. Darauf steht eine Telefonnummer mit dem Hinweis „Im Notfall“. Wer anwählt, erreicht das Heim in Burgdorf. Wer Flüchtling ist in Celle, sucht Hilfe am besten bei seinesgleichen.