: Der Moses vom Bodensee
Seit einem Jahr amtiert Rabbiner Naftalin als Richter in Fragen des Judentums. Für manche seiner deutschen Glaubensbrüder ist er selbst ein Streitfallaus Konstanz BURKHARD JÜRGENS
Der Rabbiner hat ein Strichmännchen gezeichnet, auch das gehört zu seinem Beruf. Eine bemützte Figur in einem oben offenen Kasten, rings umgeben von Zahlenkolonnen und Rechenoperationen. „Es gibt ein Moß von Wasser, was muss sejn in der Mikwe“, sagt der Rebbe und blättert flink in einem der mächtigen Foliobände. Seine Stimme tönt gegen Baulärm an. Drei Stockwerke unterhalb seines Büros pringelt ein Pressluftbohrer. Dort, umgeben von den Rückfronten der Konstanzer Altstadthäuser, wo in der Loggia Wäsche trocknet und eine Katze sich auf einem Garagendach im Hinterhof lümmelt, ist eine Baugrube eingetieft; deutlich sichtbar bereits ein Betonbecken – der Kasten in der Skizze des Rabbiners. Die jüdische Kultusgemeinde bekommt ein Tauchbad, eine Mikwe, in dem die Gläubigen die von Moses vorgeschriebenen rituellen Reinigungen vollziehen können. Damit dieses Bad, das symbolisch den Ruch der Sünde abwäscht, „koscher“ ist, also den kultischen Erfordernissen genügt, hat sich Haim Naftalin in die Materie gekniet und heute noch einmal den Architekten instruiert. Denn er, der Rabbiner und Stadtrichter, bürgt für die traditionsgemäße Auslegung des mosaischen Gesetzes: die Stimme des Moses am Bodensee.
Man vermutet nicht unbedingt den Geist des Sinai in der Konstanzer Sigismundstraße, schräg gegenüber der katholischen Dreifaltigkeitskirche. Die Einheimischen kennen die Adresse, die der Rabbiner nannte, eher als die des Finanzamtes, zu dem die schmucklose Fassade auch besser passt als zu der Synagoge der jüdischen Kultusgemeinde und einem Rabbinatsgericht. Von den Tafeln am Hauseingang, direkt neben einem koscheren Lebensmittelladen, weist keine auf diese Institution hin. Nur der Name Naftalin auf einem Klingelschild: Das ist die Institution.
Das erste orthodoxe Rabbinatsgericht auf deutschem Boden, seit 1938 die nationalsozialistische Regierung mit dem „Gesetz über die Rechtsverhältnisse der jüdischen Kultusvereinigungen“ den Synagogengemeinden den Status einer Körperschaft öffentlichen Rechts entzog und sie damit ihrer autonomen religiösen Gerichtsbarkeit beraubte.
Seit einem Jahr nun amtiert hier der bald 60-jährige Naftalin als Richter, ausgestattet mit einem Zertifikat des Jerusalemer Oberrabbinats. Geholt hatte ihn die Israelitische Religionsgemeinschaft Badens unter dem damaligen Vorsitz des Konstanzers Gideon Nissenbaum. In der Vergangenheit mussten strenggläubige Juden, die sich in religiösen Streitfragen nicht an liberale Rabbiner wenden mochten, Gerichtshöfe in England oder der Schweiz anrufen. Dieser Zustand hat ein Ende. „Ein Schritt in Richtung Normalität“, sagt Benjamin Nissenbaum, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde am Ort.
Wer zu Gericht kommt, durchquert des Rabbiners Wohnung. Im Flur grüßt den Eintretenden ein Porträt des Lubavitcher Rabbis Menachem Mendel Schneerson – Zeichen eines frommen Hauses. Der 1994 gestorbene Schneerson, letztes Glied einer osteuropäischen Rabbinerdynastie, galt seiner weltweiten Anhängerschaft als charismatischer Erneuerer eines traditionsbewussten Judentums. Die Tür zum Schlafzimmer rechts steht offen, ein Bild der Ordentlichkeit. Auf dem Bett liegt der breitkrempige Hut, Accessoire eines jeden orthodoxen Juden; auf dem Schrank zwei Koffer. Der Rabbiner ist jeden Monat in Israel. Sein Sohn Moische, erzählt er stolz, lehrt an einer Jerusalemer Talmudschule. Geradeaus der Arbeitsraum von Rabbi Naftalin. Kein Gerichtssaal, kein Zeugenstand, keine Aktenschränke. Ein Raum, ausgekleidet mit Büchern; in der Mitte ein Schreibtisch, ein Stuhl dahinter, zwei davor. Hier spricht der Rabbi Recht, sucht Entscheidungen zu allen Fragen, die ein gläubiges Herz bedrängen können. Ist ein Religionsübertritt gültig? Ist eine Scheidung erlaubt? Und eben auch: Ist unsere Mikwe koscher?
„Hier“, donnert der Rabbi und schiebt einen geöffneten Folianten über den Schreibtisch, wobei er seinen Zeigefinger auf einen Absatz legt. „Hier steht genau, wie es sein muss.“ Es ist ein Passus aus dem „Schulchan aruch“, einem monumentalen Auslegungswerk für jüdisches Recht aus dem 16. Jahrhundert. Im Fundus der Gelehrtengenerationen vor ihm kennt sich Naftalin aus; aus diesem formt er seine Entscheidungen in Übereinstimmung mit der Tradition. Was für ihn heißt: in Übereinstimmung mit den Geboten Gottes. „Gott hat die Gesetze gegeben“, sagt Naftalin. „Wir können sie nur entwickeln, aber nicht ändern.“
Nicht nur in diesem religiösen Anspruch unterscheidet sich Naftalin von seinen weltlichen Kollegen. Vor sein Gericht kann niemand gezwungen werden, und seine Urteile haben hier – anders als in Israel – keine rechtliche Bindekraft. Auch deshalb hat Naftalin mit der bürgerlichen Justiz im Grunde nichts zu tun. Allerdings seien in einigen Fällen, in denen ein gemeindeinterner Streit vor einem Zivilgericht landete, die Richter seiner sachverständigen Empfehlung gefolgt.
Eigentlich ist Naftalin Richter, Seelsorger und Religionslehrer in einem. Die, die ihn um ein Gutachten, eine Schlichtung, ein Urteil angehen, tun dies nicht auf Vorladung oder im Verlauf eines geregelten Verfahrensweges, sondern weil sie ihn als Autorität akzeptieren. Für sie hat der Entscheid Naftalins aber oft den Rang eines Schicksalsspruchs. „Ich geb dir ein Beispiel.“
Naftalin lässt die Augenlider auf Halbmast sinken, streicht über seinen den mächtigen Bart. Da war ein deutscher Jude, der sich in ein nichtjüdisches Mädchen verliebte. Sie trat über, als sie heirateten. Nach 39 Jahren tauchten Zweifel an der Gültigkeit der Konversion auf, sie wuchsen unter den Fragen Naftalins. Der Rabbi hebt die Augenbrauen: „In einer Minute war die Familie kaputt.“ Jetzt sucht er in den Rechtsquellen Wege zur Schadensbegrenzung, was „nicht zwei, nicht drei Tage“ dauern wird. Aber die Chancen, sagt er, stehen schlecht. An sich, sagt Naftalin, stehe für ihn der Mensch im Mittelpunkt, nicht das Gesetz. Man müsse immer „die Hosen des anderen anziehen“, der Situation jedes Beteiligten Rechnung tragen. Grenzen setzt ihm aber das unabänderliche Gebot Gottes – oder dessen normative Auslegung. Naftalin verwahrt sich strikt dagegen, die Tradition um einer falsch verstandenen Menschlichkeit willen aufzuweichen. Für jüdische Fragen, sagt er knapp, könne es nur jüdische Lösungen geben, alles andere hieße „ein Feuer mit Benzin löschen“.
Dass Naftalins Beauftragung durch das Jerusalemer Oberrabbinat ein besonderes Gewicht seiner Entscheide begründen soll, stößt jedoch unter Rabbinern in Deutschland auf Widerspruch: „Das ist mir Wurst“, poltert Rabbinerin Bea Wyler aus Oldenburg. „Ich bin durch meine Ausbildung und Ordination ermächtigt, Recht zu sprechen, dazu brauche ich nicht den Segen von Rabbiner Naftalin und vom Lubavitcher auch nicht.“ Entschieden wendet sie sich gegen die Unterstellung, sie nehme es mit der Tradition nicht so genau wie der orthodoxe Naftalin. Wyler dreht den Spieß um: Treue zur Bibel und zur rabbinischen Lehre sei auch eine Sache historisch-kritischer Hermeneutik.
In dieser Hinsicht sei sie „koscherer als Herr Naftalin“. Wyler sieht mit dem neuen Rabbiner eher das Mittelalter nach Konstanz zurückkehren – „Falls es Herr Naftalin nicht gemerkt hat: Wir leben im Zeitalter von Telefon und Flugzeugen“ –, möchte ihm aber im Übrigen seine „Insel auf dem Bodensee“ nicht streitig machen.
Immerhin unterhält diese Insel wichtige Verbindungen nach Jerusalem. Attestiert Rabbi Naftalin beispielsweise den Übertritt zum jüdischen Glauben, wird diese Entscheidung auch vom dortigen Oberrabbinat anerkannt und berechtigt zur Einbürgerung in Israel. Kinder einer solchen Konvertitin gelten auch dort als Juden mit allen Rechtsfolgen. Beim Übertritt vor einem liberalen Rabbiner ist das nicht der Fall. Nur interessiert das viele nicht.
Während Benjamin Nissenbaum zufrieden bemerkt, durch das orthodoxe Rabbinatsgericht in Konstanz habe Deutschland endlich wieder Anschluss an den Rest der jüdischen Welt gefunden, reagiert der Vorsitzende der Berliner Gemeinde, Andreas Nachama, gleichgültig: „In der Regel“ könne es einem in Europa oder Amerika lebenden Juden egal sein, ob eine Gerichtsentscheidung in Jerusalem anerkannt werde. Alles andere würde „Jerusalem die Position eines Obergerichts zubilligen, die es im Judentum gar nicht gibt“. Ebenso wenig werde es dem orthodoxen Rabbinatsgericht in Deutschland gelingen, einen alleinigen Geltungsanspruch durchzusetzen. „Religion ist heute keine Staatsangelegenheit mehr“, sagt Nachama. Die Autorität des Religionsgerichts stehe und falle mit der Akzeptanz durch die Parteien, die es beauftragten. Nicht anders sieht es Naftalin.
Der Richter hält dennoch an seiner Mission fest: das nach seiner Vorstellung echte jüdische Leben in seiner Religionsgemeinschaft zu fördern. Das fällt schwer im Land der Schoah, dessen jüdische Gemeinden, wie Naftalin meint, bis vor wenigen Jahren zu klein waren, um eine religiöse Kultur wieder aufzubauen. „Ihr sagt, ihr seid Juden, aber ihr lebt nicht so“, wirft er seinen deutschen Glaubensbrüdern vor. Dabei habe dieses Land große Rabbiner hervorgebracht wie kein zweites: den Bibelkommentator Raschi und die „Weisen von Worms“, den Speyerer Talmudisten Isaak ben Ascher Halevi, den Rechtsgelehrten Gerschon ben Juda aus Mainz. Ihre Wirkorte waren im Mittelalter die geistigen Zentren des mitteleuropäischen Judentums, dort entstand ein Großteil der Bücher, die die Bibliothek in der Konstanzer Rabbinerwohnung füllen. Naftalins Stimme läuft noch einmal zu einem Donnern auf: „Ich bin stolz auf diese Vergangenheit.“ Der Rabbi wird nur wenige Jahre in Deutschland bleiben. Dann müssen andere kommen, „jüdische Lösungen“ für jüdische Fragen suchen, in den Gemeinden die Tradition wach halten. Denn „was nicht hat Vergangenheit, hat nicht keine Zukunft.“
Hinweise:Früher mussten Juden, die sich in Religionstreitfragen nicht an liberale Rabbiner wenden mochten, nach England oder in die SchweizIst ein Religionsübertritt gültig? Ist eine Scheidung erlaubt? Ist unsere Mikwe koscher? Fragen, die ein gläubiges Herz bedrängen
Zitat:„Falls es Herr Naftalin nicht gemerkt hat: Wir leben im Zeitalter von Telefon und Flugzeugen“, kritisiert eine liberale Rabbinerin
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen