: Ratlose Ärzte
Ein Drittel aller Todesfälle durch Krebs sind auf falsche Ernährung zurückzuführen. Doch wenn es um gesundes Essen geht, sind Ärzte überfragt. An den Unis wird Ernährungsmedizin vernachlässigt
von P. SCHWARTZ-KLAPP u. T. KLAPP
Die kleine Jana entwickelt sich auffallend langsam. Während ihre Altersgenossen bereits lebhaft krabbeln und Worte sprechen, sitzt Jana uninteressiert im Bettchen. Besorgt suchen ihre Eltern Rat beim Kinderarzt. Ob das Phänomen mit ihrer Ernährungsweise zusammenhängt? Janas Eltern ernähren sich vegan: weder Milchprodukte, Eier noch Fleisch – rein pflanzlich. Der Arzt winkt selbstsicher ab: „Das hat damit nichts zu tun.“
Wenige Wochen später wird Jana krank und verweigert die Muttermilch und sonstige Nahrung. Zwei Tage später fällt das inzwischen abgemagerte Baby beinahe ins Koma. Auf der Intensivstation: Die Ärzte sind ratlos. Jana liegt apathisch da. Ihr ganzer Körper zittert unaufhörlich. Die Eltern bangen um ihr Leben.
Durch Zufall entdeckt Janas Mutter ein Fachbuch, das einen Hinweis auf Vitamin-B-12-Mangel gibt – die mögliche Folge der veganen Ernährung. Aber den Chefarzt interessiert das nicht. Erst nach wiederholtem Bitten durch die Mutter gibt er nach: „Schaden kann Vitamin B 12 schließlich nicht.“
Diese Vitaminspritze wirkt wie ein Wunder: Das Zittern klingt ab. Wenige Tage später steht Jana schon auf, beginnt zu krabbeln, geht dann wenige Schritte und spricht sogar Worte. Die Ursache ihrer Krankheit ist gefunden: Ein Mangel an dem B-Vitamin; die einseitige Ernährung ist schuld.
Jana ist nur ein Beispiel dafür, wie falsche Ernährung krank machen kann. Das Fatale ist jedoch: Die Ärzte erfahren in ihrer Pflichtausbildung fast nichts über Ernährung. Folglich beraten sie bei ernährungsbedingten Krankheiten oft falsch und behandeln dann auch nur die Sympotme. Die eigentliche Ursache der Krankheit bleibt unentdeckt.
Als Folge der Wissenslücke überlassen die Ärzte die Diätetik den medizinischen Assistenzberufen, selbst ernannten Fachleuten oder Laienorganisationen. Viele Patienten, die mit ihrem Leid beim Arzt nur unbefriedigende Hilfe erfahren, suchen weiter nach Rat und greifen bereitwillig zu viel versprechend klingenden Buchtiteln, die durch bestimmte Ernährungsweisen Heilung versprechen. Darunter finden sich aber auch zweifelhafte Lehren, die der wissenschaftlichen Grundlage entbehren.
So erging es auch Janas Eltern, die mit der veganen Ernährung nur das Beste für sich und ihr Kind wollten. Janas Mutter verträgt Milchprodukte nur schlecht, und Fleisch wollte sie aus ethischen Gründen nicht essen. So bot sich die tierproduktfreie Ernährung ideal an, die häufig als die gesündeste und „artgerechte“ Kostform für den Menschen gepriesen wird. Viele Patienten mit Asthma, Arthritis oder Neurodermitis erfahren dadurch oft deutliche Besserung oder gar Beschwerdefreiheit – kein Wunder, dass die vegane Ernährung immer mehr Anhänger gewinnt.
Die Pflanzenkost enthält aber nicht ausreichend Vitamin B 12. Zwar speichert die Leber große Mengen des wichtigen Vitamins, sodass der Körper einige Jahre daraus schöpfen kann. Aber Belastungssituationen wie Schwangerschaften oder Erkrankungen brauchen den körpereigenen Speicher schnell auf.
Dann wird es gefährlich: Vitamin-B-12-Mangel kann zu Schwäche, Blutarmut, Nervenschwäche, Psychosen und bei Babys zu Entwicklungsstörungen führen – so wie bei Jana. Ihr Kinderarzt hätte mit fundierten Kenntnissen über Ernährung die Tragödie verhindern können.
Genauso wie die tierproduktfreie Ernährung Gesundheitsprobleme mit sich bringen kann, stufen Experten die heute übliche tierproduktreiche Ernährung ebenfalls als problematisch ein. Zu viel Fett, Fleisch und Kalorien führen nicht selten zu Fettsucht und deren Folgeerkrankungen wie der Typ-II-Diabetes. „Trotz erblicher Anlagen müssten diese Menschen keine Diabetiker sein, wenn sie sich vernünftig ernährten“, beklagt der Berliner Ernährungsmediziner Professor Helmut Rottka.
Nicht kurzfristige Crash- oder Pülverchen-Diäten, sondern die Korrektur des Lebensstils sind nötig: Zum Beispiel mehr Gemüse und Obst, Vollkorn, weniger tierische Fette und Kalorien. Lebt der Typ-II-Diabetiker weiter wie bisher, muss er damit rechnen, irgendwann dialysiert zu werden. Professor Rottka: „Die ernährungsbedingten Krankheiten sind ja nicht nur die Krankheiten, die die höchsten Kosten erzeugen, sondern sie vermiesen auch noch den Lebensabend.“
Das gilt auch für die Paradontose, eine Zahnfleischerkrankung, „die eigentlich eine Erkrankung des Zahnhalteapparates ist“, so Rottka. „Sie wird verursacht durch unsere völlig verkehrte Ernährung in puncto Kalzium und Phosphat.“ Unsere Knochen enthalten viel mehr Kalzium als Phosphor. Durch hohen Fleischkonsum jedoch nehmen wir mehr Phosphor als Kalzium zu uns. Der Körper will nun den zu hohen Phosphorspiegel ausgleichen. Dazu löst er Kalzium auch aus dem Kieferknochen. Die Folge: Der Zahnhalteapparat bildet sich zurück, sodass viele mit 65 Jahren Zahnknochenschwund haben. „Das Blöde ist für die meisten Menschen“, moniert Rottka, „dass sich diese Ernährungsfehler erst sehr spät bemerkbar machen.“ Kein Arzt hat sie in jungen Jahren gewarnt, weil die Mediziner diese Zusammenhänge auf der Universität nicht gelernt haben.
Nicht minder nachdenklich stimmen die Zahlen aus dem 670 Seiten umfassenden Report des „World Cancer Research Fund“ (WCRF) und „American Institute for Cancer Research“ (AICR), in dem neueste, weltweit gewonnene Forschungsergebnisse über Krebs und Ernährung zusammengefasst und bewertet wurden. Etwa 35 Prozent aller Todesfälle an Krebs sind demnach auf eine falsche Ernährung zurückzuführen.
Bei einigen Krebsarten liege dieser Prozentsatz sogar noch bedeutend höher. So könnten zum Beispiel nach Einschätzung der Wissenschaftler über 34.000 der 51.700 jährlich in Deutschland neu auftretenden Dickdarmkrebsfälle durch eine richtige Ernährung vermieden werden. Und insgesamt würden weltweit durch einen gesunden Ernährungs- und Lebensstil jährlich immerhin drei bis vier Millionen Menschen weniger an den tödlichen Tumoren erkranken.
Die Schlüsselrolle für eine das Krebsrisiko senkende Ernährung spielen pflanzliche Nahrungsmittel, insbesondere Obst und Gemüse. Die enthalten nämlich Stoffe, die aktiv vor Krebs schützen beziehungsweise tumorhemmende Effekte zeigen. Dazu zählen die antioxidativen Vitamine C und E, Provitamin Beta-Carotin, Ballaststoffe, Selen sowie bioaktive Substanzen wie Glucosinolate, Flavonoide, Isothiocyanate oder pflanzliche Sterole.
Krebs fördernd in der Ernährung dagegen sind: zu hoher Fettkonsum, überhöhte Energiezufuhr und das damit verbundene Übergewicht, hoher Kochsalzverzehr, Schimmelpilzgifte, gepökelte Fleischwaren sowie heterozyklische Amine und polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe, die beim starken Erhitzen (Braten, Grillen, Frittieren) von Fleisch oder anderen Lebensmitteln entstehen können. Und nicht zuletzt erhöhen selbst geringe Mengen an Alkohol das Risiko für bestimmte Krebsarten, vor allem für das Mund-Rachen-Karzinom.
Den Kosten, die durch ernährungsbedingte Krankheiten verursacht werden, ging 1994 eine im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit erstellte Studie auf den Grund. Das Ergebnis: über 100 Milliarden Mark jährlich! Das sind rund 30 Prozent der Gesamtkosten des Gesundheitswesens.
Unverständlich also, warum Ernährung in der Medizin eine derart untergeordnete Rolle spielt. Das war nicht immer so. Zu Zeiten Hippokrates’ (460 – 377 v. Chr.) beispielsweise stand die Ernährung im Mittelpunkt der Therapie von Krankheiten. Dabei ging es nicht nur um eine gesunde und vollwertige Kostform, sondern auch um einen allgemein gesunden Lebensstil. Und das sind, wie sich heute immer deutlicher herausstellt, keinesfalls altertümliche Ansichten und Heilmethoden. Vielmehr verwehrt die heutige fachliche Unterqualifizierung der Ärzte in Sachen Ernährung vielen Patienten die Chance auf ursächliche Heilung.
Die Ärzteschaft hat dieses Manko bereits eingestanden. 1995 forderte sie auf dem 98. Deutschen Ärztetag, an Universitäten Abteilungen für Ernährungsmedizin einzurichten. Bis heute ist jedoch fast nichts geschehen. Lediglich an der Freien Universität Berlin wird derzeit in Kooperation mit dem Deutschen Institut für Ernährungsforschung (DifE), Potsdam-Rehbrücke, ein Lehrstuhl für Ernährungsmedizin aufgebaut.
Nach wie vor enthält die gültige ärztliche Approbationsordnung, der Lehrplan der Pflichtausbildung, die Ernährung nicht in besonderer Weise. Dasselbe gilt auch für die Entwürfe der neuen Approbationsordnung. „Das ist ein Nachteil, der behoben werden muss“, meint Professor Hans Reinauer von der Universität Düsseldorf. Er ist Präsident der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF), eine Institution, die an der Ausgestaltung der Approbationsordnung beteiligt ist. Reinauer will „auf alle Fälle die Ernährung und die Diätetik als Präventions- bzw. Therapiemaßnahme in die Approbationsordnung einbringen“.
Viele Ernährungsexperten aber bezweifeln, dass sich die unbefriedigende Situation an den Universitäten mittelfristig ändert. Denn dazu müssten der Medizinische Fakultätentag, das Bundesministerium für Gesundheit, das Zentrale Amt für Prüfungsfragen sowie Dozenten zustimmen. Aber die Notwendigkeit für Ernährungsmedizin wird nicht überall gleichermaßen gesehen. Einigkeit in diesem Bereich ist im Zeitalter der Gentechnik und Hightech-Medizin nicht in Sicht.
Inzwischen hat die Ärzteschaft selbst Initiative gezeigt: 1998 schuf die Bundesärztekammer den Fortbildungskurs Ernährungsmedizin. Der Haken daran: Die Veranstaltung ist freiwillig. Und abrechnen bei den Krankenkassen dürfen die Ärzte die neu erlernten Fähigkeiten auch nicht.
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