: Schock erster Klasse
Der Absturz der „Concorde“ bei Paris kann als Metapher der hochtechnologischen Ära verstanden werden. 113 Menschen kamen bei diesem Unglück ums Leben. Zur Disposition steht nun ein Verständnis von Technik, das sich nur am „Höher, Schneller, Weiter“ orientiert
von MARCO MOROSINI
„Im Jahr 2000 wird das zivile Überschallflugzeug der am meisten verkaufte Flugzeugtyp der Welt sein“, sagten einige „Experten“. Wer hätte gedacht, dass just in diesem Jahr auch jene euphorische Prophezeiung der Sechzigerjahre sich als so unrealistisch erweisen würde. Am 25. Juli stürzte bei Paris eine Concorde ab. 113 Menschen starben.
Am 29. Juli wurde das futuristische Modell des nächsten Überschallflugzeuges aus dem französischen Pavillon der Weltausstellung von Hannover in aller Eile wieder entfernt. Vierhundert Überschallflugzeuge würden schon bald die Himmel erstürmen, sagten die Konstrukteure der „Concorde“ Mitte der Sechzigerjahre voraus, damals, als noch fast niemand von den ökologischen Kosten der technischen Entwicklung sprach. Zwölf sind momentan noch flugfähig. Sie sind der Epilog eines Traumes, der gestorben ist, bevor er begann.
Alles, was man über den ökonomischen Misserfolg der „Concorde“ und über die ökologischen Schäden, die sie hervorruft, nun schreibt, hätte man schon vor drei Monaten oder drei Jahren schreiben können. Ja, schon vor dreißig Jahren hätte man das Ende des Traums vom Überschallflugzeug zum großen Teil voraussehen können. Nicht umsonst verzichteten die Amerikaner aus ökonomischem Kalkül auf solche Abenteuer.
In den Sechzigerjahren setzte Boeing in der zivilen Luftfahrt nicht auf Geschwindigkeit, sondern auf größeres Transportvolumen bei mittlerer Geschwindigkeit und niedrigem Preis. Tausend Exemplare verkaufte der in Seattle beheimatete US-Luftfahrtkonzern vom seinem Typ 747, sie zeugen vom Erfolg dieser Strategie.
Vor einem Monat, kurz vor dem Absturz der Concorde also, haben die Europäer aus dem kommerziellen Debakel ihres Überschallflugzeuges gelernt. Sie beschlossen, es wie die Amerikaner zu machen – aber besser. Der gigantische Airbus A3XX wird fünf- bis achthundert Passagiere befördern: zwei Stockwerke hoch, mit Fitnesscenter, Kabinen und Restaurants. Eine Art „Titanic“ der Lüfte.
Dank der enormen Kapazitäten sollen die Kosten und der Kerosinverbrauch pro Person um zwanzig Prozent sinken. Aber absolut gesehen wird dies wahrscheinlich zu höherem Verbrauch führen, weil viel mehr Leute fliegen werden. Der Kerosinverbrauch der Zivilluftfahrt steigt jährlich um drei Prozent. Wenn die gegenwärtige Tendenz sich fortsetzt, werden sich die CO[2]-Emissionen bis zum Jahre 2050 wahrscheinlich verdreifacht haben, so berechnete es das internationale Klimawechselexpertengremium „International Panel on Climate Change“ in Genf.
In Kioto hat sich Europa verpflichtet, die CO[2]-Emissionen bis in neun Jahren um acht Prozent zu reduzieren. Aber wenn sich die Zahl der beförderten Passagiere weiterhin alle fünfzehn Jahre verdoppelt, werden sich die CO[2]-Emissionen aus der Luftfahrt in zwanzig Jahren ungefähr verdoppeln. Wenn man in zehn Jahren feststellen wird, dass man nun wirklich nicht mehr so weiter fliegen kann wie bisher: Was soll dann mit den Airbussen A3XX passieren?
Boeing setzt erneut auf einen anderen, bescheideneren Weg, wie aus jüngsten Erklärungen des Konzernchefs Philip Condit gegenüber dem Spiegel hervorgeht. Er will den Einsatz des alten Jumbo verlängern. Die neue europäische Gigantomanie hält er offenbar für nicht marktgerecht. „Erst die Zeit wird zeigen, wer am Ende Recht behält“, sagte Condit dem Spiegel.
Die 186 Tonnen schwere Concorde fliegt mit 2.200 Stundenkilometern, das heißt mit doppelter Schallgeschwindigkeit, auf einer Höhe von 16.500 Metern. Sie hat hundert Plätze und befördert im Durchschnitt 65 Passagiere plus neun Besatzungsmitglieder. Die Passagiere können gerade noch stehen, ohne mit dem Kopf an der Decke anzustoßen. Aus den kleinen Fensterchen über den enormen Flügeln können sie kaum nach unten sehen.
Der Flug London–New York dauert vier Stunden. Die realen Kosten jedes bislang verkauften Tickets betragen ungefähr zwanzigtausend Mark, von denen der Passagier die eine Hälfte und der britisch-französische Steuerzahler die andere Hälfte bezahlt.
In den Sechzigerjahren hatten Frankreich und Großbritannien – Präsident Charles de Gaulle und Premierminister Harold Macmillan – beschlossen, zwanzig Concordes zu bauen. Es ging ums Prestige. Staatliche Löhne und private Profite wurden – ohne Rücksicht auf die Marktentwicklungen – garantiert. Letztlich kostete jede Concorde den Steuerzahler drei Milliarden Mark.
Aus Prestige – Kalter Krieg! – baute die Sowjetunion siebzehn Flugzeuge des Typs Tupolow TU 144, der so genannten „Concordowski“. Die sowjetische Technologiepolitik basierte jahrzehntelang auf dem Prinzip: „Wenn es der Westen macht, müssen auch wir es machen“: größer, stärker, zuerst.
Da die sowjetische Diktatur über die Kontrollen, die Garantien und die technologischen Raffinessen, wie sie der reichere demokratische Westen kannte, nicht verfügte, führte die Befolgung dieses Prinzips mehrere Male zu desaströsen Konsequenzen. Tschernobyl und die „Concordowski“ sind Beispiele hierfür. Im Juni 1973 stürzte wenige Kilometer von jenem Ort entfernt, wo nun eine Concorde zerschellte, die TU 144 beim Präsentationsflug in einige Häuser. Resultat: vierzehn Tote und das Ende des sowjetischen Überschallabenteuers. Eine TU 144 fliegt noch – sie wird zu Spottpreisen von den Amerikanern für Luftraumtests eingesetzt. Die übrigen wurden verschrottet oder siechen in russischen Hangars dahin.
Ein ziviles Überschallflugzeug vom Typ Concorde oder TU 144 kostet zu viel, verbraucht zu viel Kerosin, emittiert zu viel Problem- und Schadstoffe (mehr als doppelt so viel wie ein normales Flugzeug und in einer höheren Luftschicht als jenes – in 16.500 Meter Höhe, mitten in der Ozonschicht). Es macht zu viel Lärm (weshalb es nicht über bewohntem Gebiet fliegen darf). Und es hat trotz seiner enormen Tanks eine zu kurze Reichweite, nur 6 400 Kilometer, was gerade für eine Atlantiküberquerung reicht, nicht aber für einen Flug über den Pazifik, wo es zumindest kommerziell sinnvoll eingesetzt werden könnte.
Elmar Giemulla, Professor für Luftrecht an der Verwaltungsfachhochschule des Bundes in Köln, hält die Concorde für „eine fliegende Zeitbombe“, die aus dem Verkehr gezogen gehört. Die Bild-Zeitung behauptet, im Besitz geheimer Dokumente der Federal Aviation Administration (FAA) zu sein, nach denen es zwischen November 1996 und Juni 2000 allein auf dem Flughafen von New York zu vierzig schweren Havarien gekommen sei. Entweder musste der Start abgebrochen werden; manchmal gar das Flugzeug notlanden.
Die FAA prüft zur Zeit ein eventuelles Landeverbot der Concorde in New York. „Das technische Risiko ist hoch“, sagte Giemulla gegenüber der Bild-Zeitung. Geplatzte Reifen, die nach bisheriger Auswertung den Absturz mitverschuldet haben, dürften eigentlich nicht zu einer solchen Katastrophe führen. „Die Reifenfetzen wurden ins Triebwerk geschleudert und dort derart beschleunigt, dass sie regelrecht durch die hinteren Tanks geschossen sind. Das kann jederzeit wieder geschehen. Weiterfliegen wäre Roulette.“
Bodo Baus, Rektor des Polytechnikums für Luftfahrt von Aachen, rät, die Concorde ganz in Pension zu schicken: „Schon jetzt kann die Sicherheit der Concorde offenbar nur mit einem Riesenaufwand gewährleistet werden.“ Und Hans-Ulrich Ohl, ehemaliger Leiter der Bundesanstalt für Flugsicherung, fordert Mut zur Ehrlichkeit: „Die Fluggesellschaften würden Größe zeigen, wenn sie eingestehen würden, dass das Risiko nicht mehr kalkulierbar ist, und sie das Hightech-Kapitel Concorde schließen würden.“
Die Geschichte der Concorde verweist auf zwei Probleme, die wichtiger sind als jene, die mit der Luftfahrttechnik zu tun haben: unser Vertrauen in die Fähigkeit der qualifiziertesten Techniker, das reale Risiko richtig einzuschätzen, sowie die Transparenz darüber, welche Alternativen es zur Concorde (oder zu anderen Megaprojekten) geben könnte. Was ist die nächste „Concorde“, die – finanziell und ökologisch – umkippt?
Was tun, wenn es sich nicht um eine einzige Flugmaschine handeln würde, sondern um Hypertechnologie, welche Millionen beziehungsweise Milliarden „Passagiere“ einbezieht, wie zum Beispiel manche Anwendungen der Gentechnik, manche atomaren Technologien oder die globale Verbreitung von persistenten Umweltchemikalien?
Die Piloten der Concorde haben immer einmütig betont, dass diese „das sicherste Flugzeug der Welt“ sei.
Das gibt einen weiteren Anlass zur Sorge. Wenn wir nicht einmal jenen glauben können, die die höchste Qualifikation haben und ihr Leben riskieren, wem dann? Wie ist es möglich, dass eine Technik über Jahre hinweg als „extrem sicher“ definiert wird und sich dann im Verlauf weniger Tage oder gar weniger Stunden als eine „fliegende Zeitbombe entpuppt“? Haben die Ingenieure versagt, die technischen Revisoren oder die öffentlichen und privaten Entscheidungsträger? Oder ist das beunruhigendste Versagen jenes der Medien, die über die Risiken der Überschallmaschinen versäumten aufzuklären?
Eine Analyse der bekanntesten Fälle technischen Versagens zeigt, dass es sehr häufig Experten gab, die fähig waren, ohne Katastrophengeschrei und ohne Euphorie Für und Wider einer technologischen Option abzuwägen.
Oft aber wurden ihre Meinungen, wenn sie negativ ausfielen, von den privaten und öffentlichen Entscheidungsträgern nicht akzeptiert. Das wäre durchaus legitim, wenn die Entscheidungsträger von früher immer noch da wären und auch jetzt die Verantwortung übernehmen würden. Aber so ist es nicht.
Obendrein – und das ist für eine offene Gesellschaft das wirkliche Problem – werden die kritischen Teile der Gutachten technologischer Experten sehr häufig der Öffentlichkeit nicht im Klartext mitgeteilt.
„Arrive before you leave“ – Kommen Sie an, bevor Sie losfliegen!; „The ultimative journey“ – die endgültige Reise: Mit diesen Slogans hatten die Concorde-Gesellschaften um Kunden geworben. Hat im April 1912 nur ein Eisberg oder vielleicht nicht auch ein falsches Versprechen – der Name „Titanic“ – anderthalbtausend Personen das Leben gekostet?
Wenn die glücklosen Passagiere der Concorde von Paris nicht nur von den Marketing- und Werbemanagern informiert worden wären, sondern auch von den Massenmedien und den Experten, die Vorteile und Risiken der Technologien abzuwägen versuchen, hätten sie wenigstens die Möglichkeit gehabt, bewusst ein Risiko einzugehen oder eben es zu vermeiden.
MARCO MOROSINI, 1952 in Mailand geboren, promovierter Umweltanalytiker, ist seit 1998 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Akademie für Technikfolgenabschätzung in Stuttgart; dort leitet er das Projekt „Relevanz von Umweltindikatoren“. Der Autor legt Wert auf die Feststellung, dass seine Analyse nicht mit der Meinung seiner Akademie identisch sein muss. Sein Text erschien zugleich auch in einer längeren Fassung in der italienischen Tageszeitung „Manifesto“; THOMAS SCHMID übertrug ihn aus dem Italienischen
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