: Der Durchstarter
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von PHILIPP MAUSSHARDT
Mächtig stolz ist man im „Ländle“: Ein Schüler aus Baden-Württemberg (Eigenwerbung: „Wir können alles, außer Hochdeutsch“) hat mit 14 Jahren seine Abiturprüfung abgelegt. So jung war vor ihm noch nie ein bundesdeutscher Abiturient. Franz Kiraly aus Hayingen auf der Schwäbischen Alb hat fünf Klassen übersprungen. Seit das „Wunderkind“ sein Zeugnis (Durchschnitt 1,2) in der Hand hält, überrollt das verschlafene Städtchen (5.000 Einwohner) eine Medienlawine. Täglich bitten Zeitungen und Radiostationen um ein Interview.
„Der Franz freut sich über die Beachtung, aber er kann bald nicht mehr“, sagt seine Großmutter. „Der Bub braucht jetzt seine Ruhe!“ Das Haus der Familie Kiraly liegt am Ortsrand von Hayingen und gleicht mit seinem abgeschlossenen Innenhof nicht von ungefähr einem ungarischen Gehöft. Denn sehr zum Leidwesen der Schwaben ist Franz keiner der Ihren – seine Eltern stammen beide von ungarischen Vorfahren ab. Mutter Elisabeth (sie wurde in München geboren) und Vater Franz senior haben sich hier in der Provinz niedergelassen, um sich als Ärzte eine neue Existenz aufzubauen.
„Franz hat sich ein wenig hingelegt“, sagt seine Großmutter, als sie die Tür öffnet. Und um sich zu vergewissern, drückt sie auf die Sprechanlage, die jedes Zimmer im Haus miteinander verbindet: „Franz, wo steckst du? Hier ist Besuch für dich, aber lass dir Zeit. Komm herunter, wenn du Lust hast.“ Gerade erst hat ein Team des ungarischen Fernsehens das Haus verlassen.
Mitschüler drohten Prügel an
„Ständig rufen Fernsehteams an“, erklärt die Oma. „Alle wollen sehen, wie unser Franz aussieht.“ Ein wenig bleich noch von der Magengrippe, setzt sich der zu leichtem Übergewicht neigende Abiturient an den Gartentisch im Innenhof. Fast unbeteiligt schaut der Junge zu, wie seine Großmutter aus den Alben vorliest, die seit seiner Geburt angelegt wurden. „Schauen Sie hier einmal zum Beispiel“, liest die Großmutter vor, „das hat Franz am soundsovielten um 15 Uhr 1989 gesagt: ‚Auf dem Draht sitzt ein Vogel.‘ Stellen Sie sich vor, der Bub war damals erst zwei Jahre alt.“
Franz lächelt in sich hinein. Dass er begabt sei, haben ihm Eltern und Oma von klein auf gesagt, als er Gedichte auswendig aufsagte, obwohl er sie davor nur einmal durchgelesen hatte. Jetzt ist er der ganze Stolz der Familie, und seine vier jüngeren Geschwister bekommen in dem schwäbischen Milieu schon die Kehrseite seines Erfolges zu spüren: „Ihr Klugscheißer“, haben Mitschüler sie mehrmals verspottet und ihnen, wie schon Franz in den Jahren davor, Prügel angedroht.
„Die Lehrer“, klagt Franz noch heute, „hätten mich besser in Schutz nehmen müssen. Das war ungerecht.“ Doch dieser Bub mit der Brille und den besserwisserischen Fragen im Mathe-Unterricht („Kann man das nicht auch anders rechnen?“) war weder bei den Lehrern noch bei den Mitschülern sonderlich beliebt. Als Druck und Spott immer stärker wurden, wechselte er die Schule, schickten ihn die Eltern in ein entferntes Gymnasium nach Ehingen. „Da war’s besser“, sagt Franz. „Dort haben mich die anderen so genommen, wie ich bin.“
Daheim in Hayingen freilich hat sich nichts geändert. Das Wunderkind ist außerhalb der Familie ein Einzelgänger. Franz hat keine Freunde. „Das liegt sicher am Altersunterschied“, sagt Franz. „Die in meiner Klasse waren zu alt für mich, hatten andere Interessen. Und mit Gleichaltrigen konnte und kann ich nichts anfangen.“ Bei Schulaufgaben und Klausuren wurde er an den Rand gesetzt und isoliert, damit niemand von ihm abschreiben konnte. Ob er selbst einmal einen Spickzettel benutzt habe? Da lacht er über die Frage, und die Großmutter muss ihm erklären, wie man das macht. „Den steckt man sich in den Hosenbund oder zwischen die Bücher.“
Sein bester Kumpel ist Vater Franz senior. Der muntert ihn auf, der treibt ihn an: „Los, gehen wir noch etwas in den Wald“, sagt der Doppeldoktor (Zahnarzt und Allgemeinmediziner). „Der Mensch besteht nicht nur aus Kopf allein.“
Der Dorfarzt von Hayingen ist ein Energiebündel, den der unfreiwillige Umzug aus dem kommunistischen Ungarn in die schwäbische Heimeligkeit nie ruhen ließ. Was „Reingeschmeckte“ leisten können, das hat er allen gezeigt, und sein Sohn ist die Krönung. „Das hat es in Deutschland noch nicht gegeben“, sagt er nicht ohne Stolz.
Wenn sich die Hayinger Buben auf dem Bolzplatz trafen, bastelte Franz Kiraly zu Hause an 3-D-Puzzles oder programmierte seinen Computer. In seinem Bücherregal stehen weder Harry Potter noch Abenteuerromane. Dafür Lexika fast aller Sachgebiete („Was ist was?“) und reihenweise Walt-Disney-Comics. Aber auch sie sammelte Franz eher aus mathematischem Interesse. „Ich habe alle Bände, es fehlt keiner.“ Die Frage, ob er Mitglied in einem der vielen Hayinger Vereine ist, quittiert Franz mit einem gequälten Lächeln. „Im Musikverein sind doch nur Amateure, glaube ich“, sagt er. Dabei ist ihm klassische Musik als Ausgleich zum Lernen noch der liebste Zeitvertreib. Aber auch am Klavier fehlt nicht dieses Attribut: „Hoch begabt“ sei er, sagt seine Mutter.
Ferien waren zum Lernen da, und auch in diesem Sommer wird Franz nicht an irgendeinem Strand liegen, sondern sich auf sein Studium vorbereiten und allenfalls für eine Woche zur Expo nach Hannover fahren, „um mir naturwissenschaftliche Dinge anzuschauen“.
An der Universität Ulm hat sich Franz zum Wintersemester für die Fächer Mathematik und über die Zentrale Vergabestelle für Studienplätze (ZVS) auch für Medizin einschreiben lassen. Der Computer der ZVS glaubte an einen Tippfehler im Bewerbungsbogen und bat um Berichtigung: „Das von Ihnen angegebene Alter kann nicht richtig sein.“ Mit 14 Jahren wird Franz im Hörsaal wieder als Benjamin unter Älteren sitzen. Sein Vater wird ihn morgens die 55 Kilometer hinbringen und abends abholen: Ein normales Studentenleben wird das nicht werden.
Was er einmal werden will? „Ich werde meinen Doktor machen und in die Forschung gehen“, antwortet er. Die Schulverwaltung hatte, als Franz zum dritten Mal eine Klasse überspringen wollte, zur Auflage gemacht, ihn von einer Psychologin betreuen zu lassen. Die attestierte ihm einen Intelligenzquotienten von 145, die Skala endet bei 150. Sie hielt ihn für stabil genug, auch noch zwei weitere Klassen zu überspringen.
Die einseitige Förderung von naturwissenschaftlichen Begabungen halten nicht alle Pädagogen für sinnvoll. Der Leiter des Lehrerseminars für die Ausbildung von Waldorfschullehrern, Walter Riethmüller: „Ob die seelische Reife eines Kindes da mithält?“ Und: „Was ist gewonnen, wenn einer mit 14 Jahren an die Uni geht?“
Franz junior übt jetzt in den großen Ferien in einem Fach, das ihm bislang fremd geblieben ist: sozialer Dienst. Weil für das Medizinstudium ein 60-tägiges Praktikum notwendig ist, pflegt er im Krankenhaus von Ehingen alte und behinderte Patienten. Über das Wechseln der Bettwäsche spricht er dabei nicht so gerne, er hat auch dort schon wieder ein Betätigungsfeld gefunden, das ihm näher liegt: „Die haben dort im Pflegedienst ein Computerprogramm und können nicht damit umgehen. Ich habe ihnen gezeigt, wie es funktioniert.“
Ist der Kosmos seine Welt?
In seinem Schlafzimmer hat Franz ein Fernrohr stehen, durch das er an manchen Nächten in den Himmel schaut. „Einen Stern entdecken, der dann nach mir benannt ist“, sagt er „das wäre was.“ Ist es das, was ihn wirklich interessiert, ist der Kosmos seine Welt?
„Wenn Sie Astrologie meinen, hören Sie auf damit. Mit einem solchen Schwachsinn beschäftige ich mich nicht“, sagt er. Franz, der von Erwachsenen noch geduzt werden will und sie dennoch seine Überlegenheit spüren lässt, lebt in seiner Zahlenwelt. „Mama, weißt du noch, wie ich dich als Kind bis 10.000 zählen ließ?“ Dann doziert er: „Ab der Zahl 1.220 braucht man ungefähr zwei Sekunden, um sie auszusprechen. Man kann also ausrechnen, wie lange das dauert.“
Jetzt, nach dem Erfolg in der Schule und dem plötzlichen Medieninteresse an dem ungarischen Schwaben (bis Franz drei Jahre alt war, wurde zu Hause nur Ungarisch gesprochen), geht die Anfeindung in der kleinräumigen Alblandschaft weiter. In der Lokalzeitung hat man den Eltern vorgeworfen, ihr Kind „zu vermarkten“. Ein Vorwurf, der Vater Franz senior die Zornesröte ins Gesicht treibt. „Man darf doch wohl noch stolz sein“, sagt er und weiß auch schon, woher der Gegenwind pfeift. „Das sind die Grünen, die sich an der Leistung stören.“
Aber auch die „Schwarzen“ haben ihre Nöte mit Franz, dem Durchstarter. Als die baden-württembergische Kultusministerin Annette Schavan (CDU) vergangene Woche dem Abiturienten persönlich gratulieren wollte, war er für sie nicht zu sprechen: Er war auf dem Weg in ein Fernsehstudio.
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