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Die Wirklichkeit und die Theorie

Hans Joas erforscht höchst abstrakt und dennoch interessant, wie die Soziologie Kriege und ihre Ursachen heutzutage erklären kann

von WOLFRAM WETTE

Der Soziologe Hans Joas machte in den Achtzigerjahren eine erstaunliche Entdeckung: Die Vertreter seiner wissenschaftlichen Disziplin, selbst die Klassiker, und im weiteren Sinne die Sozialwissenschaftler insgesamt haben sich mit Krieg und Gewalt kaum auseinander gesetzt. „Die Aufmerksamkeit für ökonomische, soziale und politische Ungleichheit war immer viel größer als für die Phänomene der Gewalt. Selbst die legitimen Institutionen des staatlichen Gewaltmonopols erfahren in der sozialwissenschaftlichen Forschung nur ein sehr geringes Maß an Aufmerksamkeit, was angesichts ihrer Größe und Bedeutung durchaus staunenswert ist.“

Gemeint sind Militär und Polizei, auch SS und Wehrmacht – aber diese Begriffe sind für den theorieverliebten soziologischen Diskurs wohl etwas zu konkret. Nur nebenbei sei in diesem Zusammenhang angemerkt, dass auch die aus Hitler-Deutschland in die USA geflüchteten Vertreter der Frankfurter Schule der Sozialwissenschaften den NS-Staat zwar von vielen Seiten her analysierten, aber ebenfalls kaum einen Blick für die SS, die Gestapo und die Wehrmacht hatten. Man lese hierzu etwa Herbert Marcuses Analysen Nazi-Deutschlands, 1998 unter dem Titel „Feindanalysen“ veröffentlicht.

Als junger Wissenschaftlicher, der in seiner politischen Sozialisation maßgeblich von der Friedensbewegung in der ersten Hälfte der Achtzigerjahre geprägt wurde, fasste Hans Joas nach der Entdeckung der Leerstellen in der Tradition seines Faches den löblichen Entschluss, sich aus den Beengtheiten seiner Zunft zu lösen und die „Soziologie des Krieges“ zum Gegenstand seiner Forschungen zu machen. Dazu musste er zunächst die Frage zu lösen versuchen: Worin liegen die Gründe für das erstaunliche Versagen der Sozialwissenschaften, einen spezifischen Beitrag zur Analyse von Kriegsursachen und der Bedingungen des Friedens zu leisten?

Joas’ Antwort lautet, das alles habe mit dem theoretischen Erbe der Aufklärung des 18. Jahrhunderts zu tun: „Im Weltbild des Liberalismus mussten Kriege und gewaltsam ausgetragene innenpolitische Konflikte als Relikte einer untergehenden Epoche erscheinen.“ Die Liberalen glaubten die Welt auf dem Wege zu einer vernünftigen Ordnung. In der modernen bürgerlichen Gesellschaft würde die Folter aus dem Bereich der Strafjustiz ebenso verschwinden wie der Krieg aus den Staatenbeziehungen. „Ein nach vorne gerichteter, zukunftsoptimistischer Blick betrachtet das aussterbende schlechte Alte mit Ungeduld und ohne echtes Interesse.“ Die Geschichte hatte nur einen Haken: Die Wirklichkeit richtete sich oft nicht nach der liberalen Theorie. Gewalt fand trotzdem statt, im Innern der Staaten und zwischen ihnen, die beiden Weltkriege und Genozide eingeschlossen.

Die Soziologen – als Vertreter des liberalen Denksystems – reagierten auf die Ausbrüche der von ihnen zutiefst abgelehnten Gewalt auf eigene Art – sie bagatellisierten ihre Präsenz. In der ideengeschichtlichen Perspektive von Joas heißt das: „Aufklärung, Liberalismus und auch Marxismus versprechen uns zwar eine Welt ohne Gewalt, führen aber auch dazu, dass wir aus diesem Traum immer wieder unsanft erwachen (. . .) Bellizismus, Sozialdarwinismus, machtpolitischer Realismus und Gewaltmythologie richten zwar unseren Blick auf die Allgegenwart der Gewalt, berauben uns aber auch jeder Hoffnung auf eine stabil-friedliche Welt.“ Joas charakterisiert diesen Befund als ein „Dilemma“, aus dem allerdings gründliches Nachdenken herausführen könne.

Der Historiker möchte hier seine Zweifel anmelden und würde einen anderen Weg des Vorgehens vorschlagen, gerade auch, wenn es um eine Erklärung der jüngeren deutschen Geschichte geht. Er würde die gesellschaftlichen Träger des auf Frieden hin angelegten Liberalismus ermitteln und die bellizistisch orientierten Gegenkräfte beschreiben. Hernach würde er den realen geschichtlichen Prozess aus der machtpolitischen Konstellation und den Auseinandersetzungen zwischen den beiden widerstreitenden Teilen der Gesellschaft zu deuten versuchen. Unter dem sprechenden Titel „Der Traum vom Frieden und die Versuchung der Macht“ hat das der amerikanische Historiker Fritz Stern im Hinblick auf die deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts getan.

Joas geht es jedoch weniger um eine Analyse der Kriegs- oder Gewaltgeschichte selbst, sondern vornehmlich um eine Kritik der tradierten liberalen und sozialistischen Theorien mit ihrem „Traum von der gewaltfreien Moderne“. Insbesondere geht er auf Distanz zu dem vielleicht wichtigsten politischen Produkt der Modernisierungstheorie, nämlich auf die Fortschrittsmythen. Angesichts der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts könne man jenen Mythen, welche die Geschichte der Neuzeit im Sinne einer aufsteigenden Kontinuitätslinie zum Guten hin deuten, nicht mehr folgen.

In diesem Zusammenhang wird das Phänomen der Gleichzeitigkeit von „Modernität und Barbarei“ als das Zusammentreffen zweier Gegensätze erörtert. Die Aufgabe der auf diesem Feld tätigen Sozialwissenschaftler bestehe – vor diesem Hintergrund – darin, ein „von der Gewaltgeschichte belehrtes Selbstverständnis unserer Zeit zu finden“. Nun sollte in diesem Kontext allerdings auch der grundlegend positive Tatbestand zur Geltung gebracht werden, dass die deutsche Gesellschaft im Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert – trotz temporärer Ausbrüche rechtsradikaler Gewalt seit den Neunzigerjahren – friedfertiger denn je geworden ist. Die militaristische Kultur vor 1945 wurde abgelöst durch eine schrittweise wachsende Friedenskultur, die man – bei aller Krisenanfälligkeit – nicht kaputtreden sollte.

Mit dem Titel des Buches „Kriege und Werte“ hat der Rezensent so seine Schwierigkeiten, auch wenn in der Einleitung erläutert wird, in den Aufsätzen des Bandes werde „in immer neuen Anläufen nach dem Verhältnis von Kriegen und Werten in einer Vielzahl von Konstellationen gefragt“. Bringen Kriege verborgene Werte zum Vorschein? Werden Kriege um politischer oder moralischer Werte willen geführt? Wie ein tieferes Eindringen in die Texte Joas’ zeigt, meint er mit Werten nichts anderes als Kriegsgründe und Kriegsrechtfertigungen. Er fragt, ob auch heute Fälle denkbar seien, in denen sich kriegerischer Gewalteinsatz rechtfertigen lasse.

Damit stellt er sich auch der aktuellen Debatte über die – vorgeschobenen oder tatsächlichen – Werte, um die es in den Kriegen der Neunzigerjahre ging, die Balkankriege, den Golfkrieg und den Kosovokrieg. Zumal Letzterer hat in der Tat „die prinzipiellen Fragen nach einer Rechtfertigung einer militärischen Intervention“ auf die Tagesordnung gesetzt. Völlig zu Recht weist Joas darauf hin, dass die Wahrnehmung dieser Kriege in Deutschland anders sein musste als in anderen Ländern. Sie berührte tiefste Wurzeln des nationalen Selbstverständnisses, das ja zumindest bis 1945 von einer Dominanz des „machtpolitischen Realismus“ (warum nicht „Militarismus“?) geprägt war.

Seine eigene Position sieht Joas als Konsequenz seiner langjährigen sozialwissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Thema „Kriege und Werte“. Er befürwortet die Kosovo-Intervention: Der Verstoß gegen den hohen Wert der nationalen Souveränität, argumentiert er, sei gerechtfertigt durch einen höheren Wert, nämlich die Durchsetzung des universalistischen Anspruchs der Menschenrechte. Er verallgemeinert den Einzelfall Kosovo dahin gehend: „Aus der Abwägung zwischen Werten kann also durchaus ein moralisch begründetes Recht zur Intervention resultieren.“ Gleichsam zur moralischen Absicherung verweist der Autor darauf, dass viele Anhänger der Friedensbewegung der Achtzigerjahre einen ähnlichen Meinungswandel vollzogen hätten, was für „eine gewisse Logik der Entwicklung“ spreche. Joas sucht also einen verantwortbaren Weg „zwischen machtpolitischem Realismus und pazifistischer Utopie“.

Dagegen wäre allerdings zu fragen: Bedingt das konsequente Eintreten für die „höheren Werte“ der universalistischen Menschenrechte – in aller Regel zumindest – nicht die Beschränkung auf Mittel, die in ihrer moralischen Qualität diesen Werten entsprechen, nämlich auf nichtkriegerische Mittel? Muss man den im Titel dieses Buches behaupteten Zusammenhang von „Kriegen und Werten“ nicht viel grundsätzlicher in Frage stellen?

Hans Joas: „Kriege und Werte. Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts“. Velbrück Wissenschaft 2000, 326 Seiten, 39 Mark

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