: Schule gegen rechts
Wenn Nazi-Kids marschieren werden Schulen gern mit Sozialarbeitern beglückt. Die Elzer Hauptschule nicht: Sie hat sich selbst verwandelt
aus Elze CHRISTIAN FÜLLER
Er gibt keine Antwort. Sven* wird einsilbig, wenn die Rede auf seinen Vater kommt. Was der Vater von seiner, Svens, Zukunft erwarte? Ob er wünsche, dass sein Sohn auf die Realschule wechseln soll? Oder, besser noch, aufs Gymnasium? Der Zwölfjährige hockt schweigend auf einem Mäuerchen vor der Schule. Sein Vater erwartet sich nichts Besonderes von Sven. Er ist ihm egal.
Zu Hause fühlt sich der wortkarge Junge nicht wohl. Da geht er lieber in die Schule – was aber nicht heißt, dass Sven etwa gern im Unterricht säße. Hier, in der Hauptschule in Elze (Niedersachsen), hat Sven damit kein Problem. Wenn sie nicht wollen, dann müssen die Schüler nicht im Unterricht bleiben. Sie können gehen. Sie dürfen sich, wie das hier heißt, eine „Auszeit“ nehmen.
An beinahe allen deutschen Schulen wäre es ein Unding, den Unterricht zu verlassen. Nicht so in der Schule des 10.000-Einwohner-Orts Elze bei Hannover. Hier ist vieles anders. Nicht nur die fünfte und sechste Stunde.
Norbert Hilbig, das ist der Rektor, bietet heute eine Arbeitsgruppe namens „Schulgestaltung“ an. Er und die Schülerinnen Nadine und Tessa verschönern in der Schule kleine Dinge. Legen im Pausenhof dort Hand an, wo die Putzkolonne nur Dienst nach Vorschrift getan hat. Schauen, wo die beiden Schulfarben, Türkis und Lila, an Kraft eingebüßt haben – und ordern notfalls den Maler. Nadine, die Elfjährige, hat an der Elzer Hauptschule die Autorität, ihrem 52-jährigen Rektor per Du zu raten: Norbert, dort muss der Maler frische Farbe auftun. Sonst ist unsere Schule nicht mehr schön.
Die 300 Hauptschüler sollen sich identifizieren mit ihrem Haus. Anderswo ist das Schulgebäude eher eine Ansammlung von Wänden, auf denen sich Zöglinge mit Sprühdosen verewigen. In Lehranstalten wird dieses Phänomen meist „Vandalismus“ genannt. Man versucht, der „Schmiererei“ mit Härte Einhalt zu gebieten. Meist erfolglos.
Glückliche Kinder
In Elze werden farbenfrohe Ausbrüche der Schüler anders definiert. Sie gelten als Abwehrreaktion verängstigter, unsicherer, ichschwacher Personen. Denen man mit allem anderen näher zu kommen vermag als mit Härte. Notfalls nimmt Rektor Hilbig die Lackdose selbst in die Hand, um Graffiti an die Fahrradbuchte aus Beton zu sprühen. Dass ihr Haus nicht mehr schön wäre, das ist so ziemlich das Letzte, was die Schüler dieser Schule wollen. Denn sie fühlen sich wohl. Ganz offenkundig. Sie scheinen etwas zu sein, was man bei spontanen Besuchen anderer Schulen nicht immer sagen kann: glückliche Schulkinder. Wissenschaftler der Universität Oldenburg haben das quasi amtlich festgestellt. „Gleich beim Betreten des Schulgebäudes fällt die lockere und freundliche Grundstimmung unter den Schülerinnen auf“, steht in einer pädagogischen Studie über Elze.
Glückliche Kinder? Natürlich ist Marie aus der Siebten ziemlich unglücklich, wenn sie sich in jemanden verguckt hat, der das nicht erwidert. Freilich bellt auch hier eine Lehrerin plötzlich in die Probe ihrer Theatergruppe hinein, dass die Kids vor Schreck zusammenzucken. Und auch hier gibt es Probleme mit Gewalt. Wenn forsche Siebtklässler die Kids von der benachbarten Astrid-Lindgren-Grundschule triezen. Bloß sieht das pädagogische Konzept in Elze solche Ausfälle als den Normalfall an – und nicht etwa den Unterricht für begabte, sozial unauffällige Kinder aus begütertem Hause.
Am besten begutachten können das derzeit die Besucher der Weltausstellung, die in Hannover stattfindet. Und in Elze. Wie kann man eine Schule ausstellen? Durch Inszenierung. Die Elzer inszenieren andere Welten. Die Hauptschüler haben schon das alte Rom nachgespielt. Ein andermal verwandelten sie ihre Schule in ein Indianerlager. Hier wurde schon das Mittelalter nachgelebt, und im Moment inszenieren sie eine sehr authentische japanische Welt. Bei der Expo heißt das offiziell „Inszenierung von Lebenswelten“. Das ist nicht etwa ein PR-Gag für die Weltausstellung, sondern das didaktische Konzept, nach dem am Heilswannenweg 23 in Elze Schule gemacht wird.
In 28 Einzelprojekten von Aikido bis Zen, von Bambus bis Tee, beschäftigen sich die Schüler intensiv mit dem fernöstlichen Land. Sechs Monate lang. Jeden Tag. Im normalen Unterricht. Das bedeutet: Normalen Unterricht, also im 45-Minuten-Takt mehr pauken als lernen, mehr gelangweilt sein als neugierig, das gibt es in Projektphasen nicht. Unser Prinzip ist, erläutert Norbert Hilbig, „in die Gegenstände einzutauchen, statt sie zu überfliegen“. In der Hauptschule gibt es nämlich nicht Penne, sondern LU und PU.
In LU, dem Lehrgangssunterricht, geht es zwei Stunden jeden Morgen hart zur Sache. „Da wird richtig gepaukt“, entschuldigt sich Hilbig beinahe, „Mathe, Deutsch, Englisch.“ Danach ist Pause und dann kommt PU, der Projektunterricht. Das ist kein einzelnes Fach mehr, sondern ein Projekt, das verschiedene Fächer und Jahrgänge kombiniert.
Der 12-jährige „Gösi“ aus der Siebten geht dann zum Beispiel mit Hussein aus der Zehnten und zehn weiteren Schülern „Meido“, den Trommelweg. Statt die großen japanischen Trommeln, die Taiko heißen, traktieren Gösi und Hussein Stahlfässer, um – so die Bedeutung im Schintoismus – die Götter zu unterhalten.
Dass ausgerechnet Elzes Hauptschule einmal eine ganz andere Schule sein würde, war der Traum Norbert Hilbigs. Schuld daran aber ist jemand, den man in Niedersachsens Provinz wohl zu allerletzt vermutet hätte: Theodor Wiesengrund Adorno. Der deutsche Philosoph, Begründer von Frankfurter Schule und Kritischer Theorie, ist der Namensgeber der Theodor W. Adorno-Hauptschule – ohne sie je gekannt zu haben.
Probleme mit Adorno
Mancher Elzer hat sich, wie könnte es anders sein, mit Händen und Füßen gegen Adorno gewehrt. Als Hilbig Anfang der 90er als Rektor nach Elze kam und wenig später die Idee hatte, die Hauptschule nach Professor Adorno zu benennen, da tobte die Kleinstadt-CDU. Adorno habe die 68er Studentenunruhen maßgeblich beeinflusst, bemängelte der Vorsitzende des Kulturausschusses, Karsten Bartels. Und fürchtete, dass Gleiches auch Elze drohe: Adorno verhetzt Kleinstadt-Hauptschüler zum Widerstand! Was wirklich geschah, war, dass die Adorno-Schule sich binnen weniger Jahre zu einer der besten Schulen in Deutschland entwickelte. „Das ist doch prima, dass die Schule an der Expo teilnimmt“, sagt Bartels inzwischen nonchalant.
„Der Hilbig hat mir von dem Adorno mal was erzählt“. Hussein Hijazi erinnert sich gnädig daran, vom Namenspatron seiner Schule schon mal gehört zu haben. Der 16-Jährige hat sich total cool auf dem Findling vor dem Schuleingang platziert und ärgert seinen Rektor mit profundem Adorno-Nichtwissen. „Ich will hier was lernen“, klärt der Zehntklässler über seine Absichten auf. Hussein will aufs Gymnasium. Aber Adorno? Interessiert ihn nicht. Glücklicherweise fällt Marcel etwas zu Teddy Adorno ein: „Ich glaube, er wollte, dass Auschwitz nicht mehr passiert“, weiß der 12-Jährige nach kurzem Grübeln. Sein Rektor atmet auf. So schnell wie der Teenie Marcel kann auch er den Zusammenhang zwischen dem Kritischen Theoretiker und einer von ihm abgeleiteten praktischen Pädagogik nicht herstellen. Adornos Aufsatz über „Erziehung nach Auschwitz“ haben fast alle Lehrer gelesen. Unzählige, die in den 60er- oder 70er-Jahren auf den Lehrerberuf hin studierten, erhoben diesen Satz Adornos zu einer Art negativem Ideal: Das Ziel jeder Erziehung in Deutschland müsse sein, „dass Auschwitz nicht noch einmal sei“. Hilbig hat daraus eine gute Schule gemacht.
„Ich fang mal andersherum an“, Hilbig springt von der Sitzgruppe in seinem Rektorat auf. Adorno habe angenommen, erläutert er, dass Auschwitz von einer alles durchströmenden Kälte der Menschen verursacht worden sei, „ein sich Zusammenrotten von Erkaltetem“. Kälte entstehe nach Adorno durch irrationale Versagungen. Das ist es, so Hilbig, was Schülern in normalen Lehranstalten widerfährt: „Schule barbarisiert ja selber. Die herrschende, immer noch autoritäre Schule belehrt, sie nötigt zum Unterricht auf höchst künstliche und anstaltsmäßige Art: mit Zwang, Klingelzeichen, Dreiviertelstundentakt, Noten. Schule provoziert so geradezu zu gewalttätigem Verhalten.“
Hilbig, keine Frage, ist ein überzeugter Adornit. Um mit ihm aber Schule zu machen, hat er manches Theorem des Meisters beiseite gelegt – etwa das, mobile Erziehungsgruppen übers Land ziehen zu lassen, um die autoritäre Landjugend in Diskussionen von der Menschlichkeit zu überzeugen. Gerade so, wie es sich mancher Politiker in diesen Tagen wieder für die östlichen Provinzen wünscht. „Frierende“, sagt hingegen Hilbig, „muss man nicht bilden, sondern wärmen.“
Schule als Prävention
Das konkrete Programm für seine Schule hat Hilbig sich „zusammengeklaut“. Von dem Philosophen Ernst Bloch borgte sich der Rektor den Gedanken des „Wärmestroms“. Er hat bei dem Alternativerzieher Georg Kerschensteiner das Prinzip der Arbeitsschule entlehnt (Lernen gründet auf Selbstständigkeit). Von der Waldorf-Pädagogik schaute er sich das System der Jahreszeitenfeiern ab. Wenn andernorts nach den Sommerferien aus Angst vor jugendlichem Rechtsextremismus wieder eine Fülle befristeter Einzelmaßnahmen ergriffen werden, hat Hilbig die Elzer Hauptschule vollkommen umgekrempelt in eine Schule der Prävention. Die Adorno-Schule ist offen für das Leben draußen. Sie schafft Identifikationsmöglichkeiten für die Schüler. Und sie ist bewusst nicht hart, sondern antiautoritär. Weil die Lehrer, wie Hilbig sagt, „aufhören, Lehrer sein zu wollen“. Und weil die Elzer Hauptschüler eine Auszeit nehmen können. Eine Auszeit, adornitisch gesprochen, gegen die Eiszeit.
Auch Sven, der Wortkarge, vermeintlich Desinteressierte, geht dann. Aber nicht nach Hause. Er bleibt in der Schule. Am Biotop arbeiten, Fahrräder reparieren, mit dem geliebten Werklehrer Juppie Heuer bis am Abend in der Schreinerwerkstatt basteln. „Wenn die Ferien kommen, ist Sven ganz traurig“, berichtet sein Lehrer. Denn dann kann er nicht in die Adorno-Schule.
* Name von der Red. geändert
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen