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Mehr Vergangenheit als Zukunft

Zum Auftakt des Wahlparteitags der US-Demokraten feiert Präsident Clinton mit nostalgischen Anklängen an die Kennedy-Ära einen derart überwältigenden Abschied, dass sein designierter Nachfolger Gore bislang aus den Kulissen nicht herausfindet

aus Los Angeles PETER TAUTFEST

Die Begeisterung brandet auf, noch bevor der Held überhaupt erscheint. Was auf einer Leinwand zu sehen ist, ist zunächst nur ein langer Gang. Ein Mann kommt den Spalt aus klinisch weißen Wänden entlang. Clinton ist es, der durch einen Servicetrakt kommt, die Kamerafahrt symbolisiert den Weg aus dem Keller der Gesellschaft ins Licht – sein Weg und den seiner Partei.

Ein Kameraschwenk führt zum Perspektivenwechsel. Clinton ist jetzt von hinten zu sehen, wie er auf die Bühne zugeht und das Publikum sieht. Dann steht er leibhaftig auf der Bühne, und der Jubel kennt keine Grenzen.

Clinton ist für die Demokraten das, was Reagan für die Republikaner war. Er hat seine Partei neu definiert. Seit Roosevelt war kein demokratischer Präsident bei seiner Partei so populär. Am Montagabend bestand zu Beginn des Parteitags der Demokraten in Los Angeles seine Aufgabe darin, dem Publikum eine letzte Gelegenheit zu geben, ihm zu huldigen, damit sich dann alle Begeisterung auf den Kandidaten Al Gore richten kann. „Hands off“ nennt man diesen Auftritt des Amtsinhabers, wenn der seinen Nachfolger nominiert. Er folgt wie jeder Akt dieses streng choreographierten Parteitags festen Regeln.

Clinton gerät seine Stafettenübergabe zu einem Abschied nicht nur von seiner Partei, sondern vom amerikanischen Volk. Zunächst ist es eine seiner üblichen Aufzählungsreden: 22 Millionen neue Jobs, die Umwandlung des größten Defizits aller Zeiten in den größten Einnahmeüberschuss aller Zeiten, die längstanhaltende wirtschaftliche Expansion in der Geschichte Amerikas, die größte Prosperität aller Zeiten überhaupt.

Die Begeisterung droht ihm fast sein eigentliches Anliegen zu verschütten: zu zeigen, wie stark Al Gore an alledem beteiligt war. Seine Rede ist gleichwohl ein gelungener Kunstgriff. Clinton tritt vor die 5.000 Delegierte und per vor das amerikanische Volk und erstattet Rechenschaft über seine letzten acht Jahre. Dann gibt er das Mandat zurück: „Die Zukunft unseres Landes liegt jetzt in eurer Hand.“

Die letzte lang anhaltende Expansion der US-Wirtschaft war zwischen 1961 und 1964. Clinton war damals ein junger Mann, der an eine große Zukunft glaubte. Doch dann kamen die Aufstände in den Ghettos, die Morde an Martin Luther King und Robert Kennedy. Mit dem Amtsantritt Nixons begann dann die Talfahrt. Clintons Message ist klar: Wenn Al Gore nicht gewählt wird, wird sich die Geschichte wiederholen.

Rückblick und Vorschau zu verbinden muss freilich mehr sein als ein ästhetischer Kunstgriff, mehr als die gelungene Inszenierung einer Massenschau. Der Parteitag der Demokraten ist Ouvertüre, Schwanengesang und Heldenarie in einem. Er feiert die Erfolge der Clinton-Regierung und muss zugleich die Parteibasis mobilisieren, die man nicht mit Appellen an ihre Zufriedenheit in Begeisterung versetzt. Nach Umfrageergebnissen geben 54 Prozent der Befragten an, dass die neue Prosperität an ihnen vorbeigegangen ist.

Clinton wurde dennoch gefeiert wie ein Sieger. Die Delegierten schwenkten Tausende von roten „Thank You President Clinton“-Schildern. Fast 5.000 Delegierte sind da, doppelt so viele wie bei den Repulikanern. Zusammen mit Gästen und Freunden und 15.000 Medienvertretern macht das 35.000 Menschen.

Unter den Delegierten findet man Leute, die schon auf Positionen in einer neuen Regierung spekulieren, diese Mischung aus Nadelstreifen und Filz. Anders als bei den Republikanern aber sind 20 Prozent der Delegierten schwarz, 50 Prozent Frauen, 23 Prozent Gewerkschaftler. Sie geben dem Konvent bei aller Ähnlichkeit mit dem Budenzauber der Republikaner ein etwas anderes Gesicht.

Dennoch findet der Konvent unter noch nie da gewesenen Sicherheitsvorkehrungen statt. Die übel beleumundete Polizei von Los Angeles hat alle ihre knapp 10.000 Männer und Frauen mobilisiert. Unterstützt werden sie von Sondereinheiten des Sheriffs und der Nationalgarde. Das knapp elf Monate alte Staples-Stadion im Zentrum der Stadt ist mit Betonschwellen und vier Meter hohen Zäunen hermetisch abgeriegelt. Ein Richterspruch verhinderte, dass die Polizei wie in Washington und Philadelphia das Zentrum der oppositionellen Demonstranten vorbeugend schließt, und verbot der Stadt, die Demonstranten an einen Ort weit abseits des Geschehens zu verbannen. Kundgebungen finden also unmittelbar außerhalb des Stadions statt.

Während drinnen im Sportstadiom die Clinton-Fans der Abschiedsrede ihres Präsidenten lauschen, kommt es draußen vor den Absperrungen nach einem Rockkonzert zu ersten gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten. Berittene Polizei räumt den Platz und die Straße. Ein Hauch von Seattle liegt in der Luft. Die Delegierten verlassen den Parteitag durch Straßen, in denen Scherben liegen.

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