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Ein schleichendes Tschernobyl

Die Regierung in Moskau zeigt bislang wenig Neigung, sich beim Aufräumen der strahlenden Hinterlassenschaft im und am Nordmeer zu engagieren

von REINHARD WOLFF

Sturm verzögerte die Bergung der 116 russischen Marinesoldaten, die auch gestern, zwei Tage nachdem ihr Atom-U-Boot „Kursk“ gesunken war, auf dem Grund der Barentssee festsaßen. Von Anfang an hatten sie keinen Strom mehr zu Verfügung, damit war die Heizung im acht Grad kalten Wasser ausgefallen. So viel stand gestern fest: Zahlreiche wichtige Informationen sind weiter vom Nebel der typisch unklaren Aussagen der Militärs umgeben. Die Ursache des Hauptproblems, der Totalausfall der beiden Atomreaktoren an Bord und damit auch des Antriebs und der Energieversorgung, ist ungeklärt. Da die Besatzung nicht einmal mehr funken konnte, nehmen westliche Experten an, dass es entweder gar keine nennenswerten Batterien an Bord gab oder dass sie ebenfalls beschädigt sind.

Laut Alexander Nikitin von der norwegischen Umweltorganisation Bellona musste der Reaktor schnell abgeschaltet werden. Nur so lasse sich erklären, dass das Boot auf dem Grund festliegt. Bei einer Tiefe von über 100 Meter sei es ohne Energie vom Reaktor kaum noch möglich, die Ballasttanks leer zu pumpen und damit leicht genug für einen Wiederaufstieg zu werden. Das Problem: Wenn die Reaktoren wie angenommen durch die Einfuhr von „Bremsstäben“ notabgeschaltet wurden, kann sie anscheinend nur noch eine Werft wieder gangbar machen, nicht aber die Besatzung. Nikitin war früher selbst Sicherheitsoffizier an Bord eines Atom-U-Boots, veröffentlichte Reports über die Sicherheitsgefahren der Schiffsreaktoren und ihres Mülls und wird seitdem vom russischen Inlandsgeheimdienst mit Gerichtsverfahren überzogen.

Was auch bei einer geglückten Rettung erst mal auf dem Meeresgrund bleibt, ist das U-Boot samt seinem radioaktiven Müll. Es ist nicht das erste Atomwrack in der Region. Die eisige See und die nördliche Küste Russlands sind eines der gefährlichsten und ungesichertsten Atomklos der Welt. Denn selbst die Atomflotte, ein Eliteteil der Streitkräfte, hat absolut kein Geld mehr.

„Russische Seeoffiziere, mit denen ich geredet habe, haben schon lange ihre Angst geäußert, welche Folgen für die Sicherheit die ökonomischen Probleme der Flotte haben werden“, berichtet Geir Hönneland vom Fridtjof-Nansen-Institut des norwegischen Außenministeriums. Hönneland, der in den vergangenen Jahren mehrmals Militärbasen auf der Kola-Halbinsel besucht hat, erzählt, dass Kapitäne teilweise aus eigener Tasche Ersatzteile bezahlt haben, weil der Zustand der Boote sie um die eigene Sicherheit und die ihrer Besatzung fürchten ließ.

Die Mehrzahl der Boote musste mittlerweile entweder planmäßig eingemottet oder außerplanmäßig stillgelegt werden. Laut der norwegischen Umweltschutzorganisation Bellona liegen derzeit mindestens 86 ausrangierte Atom-U-Boote bei der Marinewerft von Sewerodwinsk bei Archangelsk und in der Nerpa-Bucht bei Murmansk. Andere in fünf weiteren Abwrackhäfen. „Es kommt hinzu, dass man überhaupt keine sichere Lagerungskapazität für die Atomreaktoren, die ausgebrannten Kernstäbe und anderen Atommüll hat“, so Thomas Nilsen von Bellona. 30 bis 35 Jahre würde es beim jetzigen Tempo dauern, allein die bislang schon ausgemusterten atomgetriebenen Schiffe zu verschrotten. Aus der Mehrzahl der Wracks würde bis dahin schon unkontrolliert Atommüll lecken, meint Nilsen.

Ein Atommülllager in der Andrejewa-Bucht am Murmansk-Fjord liegt nur 40 Kilometer von der norwegisch-russischen Grenze und noch näher an der eine halbe Million Einwohner zählenden Stadt Murmansk. Hier lagern, teilweise unter freiem Himmel, abgebrannte Brennelemente von über 100 Schiffs-Atomreaktoren. Mehrmals wurden von dort Leckagen gemeldet, und selbst nach russischen Berichten seien die gemessenen Strahlendosen „beunruhigend hoch“. Der strahlende Abfall der zivilen Atom-Eisbrecherflotte lagert gar auf Frachtern im Hafen von Murmansk.

Die Regierung in Moskau hat bislang wenig Neigung gezeigt, sich beim Aufräumen der strahlenden Hinterlassenschaft am fernen Nordmeer sonderlich zu engagieren. Die westlichen Hilfsprogramme, die teilweise schon vor Jahren eingeleitet wurden, verspäten sich stetig weiter oder sind wieder ganz abgeblasen worden. Zum Teil wird hierbei auf technische Probleme hingewiesen, zum Teil aber auch auf Hindernisse seitens der russischen Bürokratie. In den letzten Wochen wurde immerhin mal wieder gemeldet, dass mit ausländischer Hilfe endlich das Atommülllagerschiff „Lepse“ aus dem Murmansker Stadtbild verschwinden soll und der Bau einer neuen Atommülllagerstätte „demnächst“ begonnen werden solle.

Alexander Nikitin, mit dessen Hilfe Bellona einen Großteil seines Materials sammeln konnte, meinte diese Woche in Oslo: Noch sei die Strahlenbelastung des Nordmeers wesentlich geringer als beispielsweise im Meer vor der britischen Wiederaufarbeitungsanlage Sellafield. Geschehe aber nicht bald etwas, drohe hier „ein schleichendes und nicht mehr kontrollierbares Tschernobyl“.

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