: Moskau demütigt seine Bürger
Auch wenn sich der Kreml durchgerungen hat, westliche Hilfe anzufordern, so hat er doch zunächst staatliche Interessen über Menschenleben gestellt
aus Murmansk KLAUS-HELGE DONATH
Gebannt starren die Gäste auf den Fernseher. Das Stimmengewirr in der Murmansker Bar versiegt in dem Moment, wo das russische Fernsehen die Rettungsaktion des norwegischen Teams in hundert Meter Tiefe live überträgt. Jeder Handgriff scheint zu sitzen. Als sich die Luke der „Kursk“ dennoch nicht öffnen lässt und die Froschmänner aus der Tiefe in der Werkstatt des Begleitschiffs die Anfertigung von Spezialwerkzeugen in Auftrag geben, traut das Publikum seinen Ohren nicht.
Professionalität, Effektivität und Verantwortungsbewusstsein sind in Russland inzwischen häufiger anzutreffen als noch vor einem Jahrzehnt, selbstverständliche Tugenden sind sie indes noch lange nicht. Die Demonstration westlichen Know-hows hätte die nationalistisch eingestimmte Öffentlichkeit vor der Havarie noch als eine überflüssige und demütigende Belehrung angesehen. Die Tragödie in der Barentssee hat die Wahrnehmung zumindest für den Moment verändert. Stimmungen kippen schnell in Russland. Presse und Bürger stellen offen die Frage: Warum können wir das nicht? Die Antwort ist ambivalent. Eigentlich wäre man dazu in der Lage, irgendetwas stört indes immer. In der intellektuellen und technischen Ausbildung steht Russland westlichen Ländern sicherlich nicht nach. Nur bei der Umsetzung hapert es meist.
Die Tragödie könnte einen neuen Schub der Offenheit und Öffnung hervorrufen. Die Kritik gegenüber dem Kreml, der Armee und den Behörden erinnert an die Zeit der Perestroika unter Gorbatschow, als plötzlich niemand mehr ein Blatt vor den Mund nahm.
Der einfache Bürger mag sich gedemütigt fühlen, diesmal nicht in seinem Nationalstolz, sondern in seinem Recht auf Unversehrtheit. Auch wenn sich der Kreml nach Tagen durchgerungen hat, westliche Hilfe anzufordern, so hat er doch zunächst vermeintliche Staatsinteressen über Menschenleben gestellt. Inzwischen gibt es keine Hoffnungen mehr. Das Hilfsteam brach die Rettungsaktion ab. An Bord der „Kursk“ hat nach Angaben der Norweger niemand überlebt. Dass das U-Boot noch gehoben wird, scheint unwahrscheinlich. Moskau wird es zu einem Seegrab erklären, wenn die Norweger die russische Bitte, die Leichen zu bergen, ablehnen sollten.
Könnte die Anfrage nicht auch Kalkül sein? Einige Beobachter glauben es. Moskau könnte behaupten, alles getan zu haben. Dann wird der Atomreaktor am Meeresgrund versiegelt und damit auch die Chance, jemals die wahren Ursachen der Katastrophe zu erfahren.
Zähneknirschend haben Armee und Flottenführung den Einsatz der Ausländer hingenommen. Wo sich aber Gelegenheit bot, die Helfer von der Nutzlosigkeit der Rettungsmaßnahme zu überzeugen, haben sie sie zielstrebig wahrgenommen. Das macht stutzig. Natürlich fühlen sich die Militärs in ihrem Stolz gekränkt. Westlichen Militärs wäre das nicht anders ergangen. Man stelle sich nur vor, die USA würden die Russen zur Hilfe rufen. Undenkbar.
Hinter dem Abwiegeln vermutet die Öffentlichkeit indes noch greifbarere Gründe. Wollen die Militärs den Grund vertuschen, weil ein russisches Schiff während des Manövers die „Kursk“ gerammt hat? Ist der Reaktor wirklich abgeschaltet und so sicher, wie der Flottenstab behauptet. Oder hatte die „Kursk“ vielleicht neue, geheime und stärkere Waffen an Bord? Fest steht, von einer genaueren Untersuchung hätte der Flottenstab nichts Gutes zu erwarten. Details am Rande enthalten schon ausreichend Explosivität. So konnte ein Mini-Rettungs-U-Boot der russischen Flotte nicht eingesetzt werden, weil es an den Ölkonzern „Lukoil“ vermietet worden war. Wer da wohl mit verdient hat? Gerüchten zufolge fehlten auch Taucheranzüge und Notaggregate an Bord. Letztere sollten für die Fahrt der „Kursk“ im Herbst ins Mittelmeer geschont werden, womit Wladimir Putin Moskaus Großmachtanspruch unterstreichen wollte. Mit der „Kursk“ sind diese Träume gesunken.
Die Karte „nationaler Stolz und Demütigung durch den Westen“ kann der Kreml demnächst nicht mehr spielen. Die Bürger fühlen sich mal wieder von ihrer eigenen Führung gedemütigt. Eine Kellnerin: „Schreiben Sie, was unsere Politiker für Schweinehunde sind.“
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