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Für Kinder nicht zugelassen

Die meisten Arzneimittel sind nicht auf Kindertauglichkeit geprüft. Da wissenschaftlich gesicherte Daten über Dosierung und Nebenwirkungen bei Kindern fehlen, können Ärzte häufig nur improvisieren. Vor allem Neugeborene sind betroffen

von CLAUDIA BORCHARD-TUCH

„Von meiner Apotheke, nicht von Ihnen, erhielt ich heute einen Rote-Hand-Brief, der für Kinder die Impfung gegen FSME mit der Fertigspritze für Erwachsene empfiehlt, wobei die Hälfte des Spritzeninhalts einfach weggeschüttet werden soll“, schrieb der Kinderarzt Michael Praetorius im März dieses Jahres an das Pharmaunternehmen Baxter. „Wie kann den Beitragszahlern erklärt werden, dass die Hälfte eines teuer bezahlten Impfstoffs schlichtweg vernichtet wird?“ Baxter antwortete, dass zwar die Zulassung eines Kinderimpfstoffs beantragt, jedoch noch nicht erfolgt sei. So stehe kein Kinderimpfstoff zur Verfügung.

Mit zahlreichen anderen Medikamenten ist es wie mit dem Impfstoff: Für Kinder gibt es sie nicht. Bislang werden klinische Studien fast ausschließlich an Erwachsenen durchgeführt, sodass es für 70 Prozent der bei Kindern eingesetzten Medikamente keine gesicherten Daten gibt. Viele Medikamente können die Ärzte Kindern gar nicht verordnen, weil die Wirkungen im kindlichen Körper unbekannt sind. „Die Vergabe von Medikamenten an Säuglinge und Kleinkinder ist bisher wenig erforscht“, erklärte der Kardiologe Martin Hulpe-Wette auf der Göttinger Ausstellung „Das Kind ist kein kleiner Erwachsener“. Die Gründe für die Zurückhaltung bei den Tests sind vielfältig. Im Vergleich zum Erwachsenen ist das Marktpotenzial bei Kindern geringer, bei seltenen Erkrankungen werden fast nie ausreichende Fallzahlen erreicht, und die ethischen und juristischen Rahmenbedingungen sind unzureichend. Zudem fehlen ausreichend geschulte und erfahrene Leiter der klinischen Prüfung und Prüfärzte.

„Kindern und Jugendlichen kommt als nicht einwilligungsfähigen Personen ein besonderer Schutz zu“, stellt Ingeborg Walter-Sack, Universität Heidelberg, fest. „Eine klinische Prüfung muss sich auf die Entwicklungsstufe beziehen, in der das Arzneimittel gebraucht wird. Sie darf nur dann durchgeführt werden, wenn entsprechende Untersuchungen bei Erwachsenen keine ausreichenden Ergebnisse erwarten ließen. Dies bedeutet, dass Kindern rein wissenschaftlichen Studien nicht unterzogen werden können. Gesunde Kinder dürfen nicht zu Studien herangezogen werden.“

Arzneien können jedoch nur nach ausführlichen Tests an Kindern für Kinder zugelassen werden. Ohne Vortests also keine klinische Prüfung, ohne klinische Studien keine Zulassung. Da zugelassene Medikamente fehlen, bekommen mehr als zwei Drittel der behandelten Kinder Medikamente, die für sie nicht zugelassen sind. Einem Kind darf ein nicht zugelassenes Medikament, dessen Wirksamkeit eindeutig belegt worden ist, auch nicht vorenthalten werden. So wurde ein Arzt verurteilt, der eine kindliche Hirnentzündung nicht mit Aciclovir behandelt hatte, weil dieses Medikament für Kinder nicht zugelassen ist.

Fast 40 Prozent der Mittel dürfen offiziell nicht in der Form oder Dosierung verabreicht werden, in der Kinder sie vermutlich brauchen. „Den meisten Ärzten ist überhaupt nicht klar“, erklärt Hannsjörg Seyberth, Philipps-Universität Marburg, „dass sie dauernd experimentelle Heilversuche machen müssen.“ Von 53 neuen pharmazeutischen Substanzen hatten 1997 nur 5 Angaben über Dosierungen bei Kindern. Bei den restlichen fehlen die Daten. „Trotzdem“, so Seyberth, „legen uns die Hersteller oft unter der Hand nahe, die Mittel bei Kindern zu verwenden.“

Vor allem bei Medikamenten, die neu auf den Markt kommen, sind die Unsicherheiten groß: „Es wird improvisiert“, stellt Stephanie Läer, klinische Pharmakologin an der Hamburger Uniklinik, fest, „jeder kocht sein eigenes Süppchen und erfindet das Rad jedes Mal neu.“

Zwar haben sich viele Medikamente bei Kindern als wirksam erwiesen und werden eingesetzt, doch oft gleicht das Herausfinden der richtigen Dosierung einem Glücksspiel. „Es ist nicht möglich, die Medikamentendosis von Erwachsenen auf Kinder einfach herunterzurechnen“, sagt Hulpe-Wette.

Bei 90 Prozent der auf pädiatrischen Intensivstationen verwendeten Medikamente – so zeigt eine Studie in vier europäischen Ländern – fehlen klinisch gesicherte Daten über Dosierungen und Nebenwirkungen bei Kindern. Auf internistischen Stationen liegt der Anteil bei 70 Prozent, selbst auf pädiatrischen Allgemeinstationen bei über 50 Prozent. „Oft haben wir einfach nur unverschämtes Glück“, meint Duane Alexander, Direktor des US-Nationalinstituts für Kindergesundheit und -entwicklung. Die errechneten Dosen führen vor allem deshalb nicht häufiger zu Schäden, weil viele Medikamente über einen breiten Wirkungsbereich verfügen und falsche Dosierungen nicht immer Folgen haben.

Um Dosierungen für Kinder zu bekommen, müssen Erwachsenentabletten häufig zerbrochen werden. Hiermit kann die Wirkstoffmenge jedoch kaum exakt eingestellt werden. „Es ist fast unmöglich“, fasst Jörg Breitkreuz, Apotheker am Institut für Pharmazeutische Technologie der Uni Münster, das Problem zusammen, „von einer Tablette ein Zehntel abzubrechen.“

In den Krankenhausapotheken werden Tabletten deshalb häufig zerrieben, mit anderen Stoffen verdünnt und anschließend wieder in Kapseln gefüllt. Vor allem Tabletten und Kapseln der neueren Generation haben außen eine Lackschicht, die sie vor der Auflösung im Magen bewahrt und die verzögerte Freisetzung des Wirkstoffs im Darm ermöglicht. Beim Zerreiben solcher Medikamente geht diese „Retard“-Wirkung verloren.

Da Untersuchungen fehlen, die die Unbedenklichkeit eines Arzneimittels bei Kindern nachweisen, ist das Risiko unerwünschter Nebenwirkungen erhöht. Bei einer Reihe von Medikamenten kam es zu lebensgefährlichen Folgen. Cisaprid, ein Medikament, das bei tausenden von Kindern eingesetzt wurde, um das Hochsteigen des Speisebreis aus dem Magen zu vermeiden, führte bei den Patienten zu gefährlichen Herzattacken. Nach zu hohen Dosen des Herzmittels Digoxin in der ersten Lebenswoche traten bei den Neugeborenen Herzrhythmusstörungen und Hirnblutungen auf.

Am schwersten trifft das Problem die Kleinsten. Auf den Intensivstationen werden Früh- und Neugeborene an Beatmungsgeräte angeschlossen und mit Monitoren verkabelt. Sie bekommen nicht selten bis zu einem Dutzend Medikamente gleichzeitig. Doch ein genaues Wissen über die Sicherheit der Therapie gibt es häufig nicht.

Zwar schützt der jahrelange Voreinsatz bei Erwachsenen auch die Jüngsten: Auf diese Weise bleiben sie von den Nebenwirkungen verschont, die bei der breiten klinischen Anwendung auftreten. Doch der zeitliche Abstand ist groß – oft fünf, zehn oder noch mehr Jahre. „Kinder sind viel zu lange vom therapeutischen Fortschritt abgeschnitten“, stellt Hannsjörg Seyberth fest. „Sie bekommen Medikamente, die man den Erwachsenen längst nicht mehr zumutet.“

So werden die jüngsten Patienten beispielsweise noch immer mit alten Kopfschmerzmitteln behandelt, von denen die Mediziner längst wissen, dass sie zu Gefäßspasmen und bei Erwachsenen sogar zu Angina-pectoris-Anfällen führen können. „Wir müssen Kinder damit behandeln“, so Seyberth, „weil die neuen Präparate für sie noch nicht geprüft sind.“

„Die Firmen entziehen sich ihrer Verantwortung“, stellt Seyberth fest. Schuld an den fehlenden klinischen Tests mit Kindern sei die Abneigung der Industrie, für solche Studien Geld auszugeben. Daneben spiele auch die Angst vieler Eltern eine Rolle, ihre Kinder könnten von Herstellern und Ärzten als Versuchskaninchen missbraucht werden.

Erfahrene Kliniker fordern seit Jahren, Kinder viel früher in die Entwicklung von neuen Arzneimitteln einzubeziehen. Die Behandlung mit nicht zugelassenen Stoffen, kritisiert die Deutsche Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin in einem „Memorandum“, sei in der Pädiatrie „nahezu der Regelfall“. Weder Tierversuche noch Studien mit Erwachsenen, so die besorgten Ärzte, könnten „die Wirkung von Arzneimitteln bei Kindern der verschiedenen Altersgruppen und Entwicklungsstufen endgültig voraussagen“.

In den USA sind bereits erste Schritte zur Verbesserung der Pharmakotherapie in der Kinderheilkunde unternommen worden. Dort hat man für die pharmazeutische Industrie durch die Verlängerung des Patentschutzes für innovative Arzneimittel einen finanziellen Anreiz geschaffen, Daten zur klinischen Prüfung bei Kindern vorzulegen. Eine europäische Richtlinie steht bisher aus. Darüber hinaus besteht in den USA seit 1994 ein Netzwerk von pädiatrischen Zentren mit dem Ziel, klinische Studien bei Kindern effizienter durchführen zu können und ausreichende Fallzahlen auch bei seltenen Erkrankungen zu erreichen. In Europa wurde das European Network für Kinder gegründet. Die Einrichtung dient als Diskussionsforum und soll den internationalen und interdisziplinären Erfahrungsaustausch fördern sowie die internationale Kooperation verbessern. In Deutschland wurde die Projektgruppe „Kinder in klinischen Prüfungen“ gegründet. Primäres Anliegen ist es, Öffentlichkeit zu schaffen und nach US-amerikanischem Vorbild ein nationales Netzwerk pädiatrischer Zentren für die Arzneimittelsicherheit in Göttingen aufzubauen.

Dennoch scheint der Fortschritt in Deutschland im Schneckentempo dahinzukriechen: Noch im März dieses Jahres lehnte die Bundesregierung es ab, ein staatliches Zentrum für die Erforschung kindertauglicher Medikamente einzurichten – obwohl dies die Deutsche Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin seit Jahren fordert.

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