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Ein Kessel Buntes

Das Polizeiorchester spielt heute im Seniorenstift an der Eberswalder Straße. Und das nur, weil Beamte in der Walpurgisnacht 1999 vor dem Altersheim 300 Jugendliche stundenlang einkesselten. Die hatten ohne Anmeldung auf der Straße getanzt

von MAJA SCHUSTER

Es war ein unfreiwilliges Aufeinandertreffen der Generationen: Ausgerechnet vor einem Altersheim kesselte die Polizei in der Nacht zum 1. Mai 1999 rund 350 DemonstrantInnen nach einer Reclaim-the-streets-Aktion in der Eberswalder Straße in Prenzlauer Berg ein. Über fünf Stunden zog sich die Festsetzung hin. Aus dem „wilden Tanz auf der Straße, in dem wir beginnen, Freiheit zu begreifen und zu entwickeln“ – so war es auf den Plaketen und Mobilisierungsflugis angekündigt – wurde ein stundenlanges Warten bis nach Mitternacht. Personalienaufnahme, erkennungsdienstliche Behandlung und über 300 Personen in Verbringungsgewahrsam.

Wirklich deeskalierend wirkte dabei nur die Heimleitung des Pflegewohnheims St. Elisabeth-Stift. Polizei und DemonstrantInnen durften die sanitären Anlagen des Altenheims benutzen. Die einen in Uniform, die anderen nur mit uniformierter Begleitung.

Eineinhalb Jahre später folgt nun der Dank der Polizei für die spontane Unterstützung: das Polizeiorchesters konzertiert heute Nachmittag im Hof des Stifts. Eine Entschädigungsaktion für die HeimbewohnerInnen, die von der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit der Polizeidirektion 7 initiiert wurde. Ingrid Schwarz von der Heimleitung des Stifts ist über die „vertrauensbildende Maßnahme“ erfreut. Die nächtliche Polizeiaktion hätte viele der teilweise bettlägerigen und stark pflegebedürftigen Menschen in Angst und Schrecken versetzt. „Viele von ihnen haben den Krieg erlebt. Da kehrten böse Erinnerungen zurück“, so Schwarz.

Dass der Einsatz nicht nur für die DemonstrantInnen unangenehme Folgen hatte, wurde erst bei einem Gespräch zwischen der Polizei und Heimleiter Lars Helbsing deutlich. Der hatte sich im April bei der Polizei erkundigt, ob auch in diesem Jahr wieder mit nächtlichen Aktionen zu rechnen sei, und die sanitären Anlagen schon im Vorfeld angeboten. Der Polizei wurde in diesem Gespräch deutlich, dass es „Traumatisierungen mehrerer HeimbewohnerInnen“ gab.

Die offizielle Einladung der SeniorInnen zu Kaffee und Kuchen auf dem Polizeifest am 30. April dieses Jahres auf dem Kollwitzplatz war der erste Entschädigungsversuch der Polizei. Doch er scheiterte. Man hatte vergessen, dass die älteren Herrschaften teilweise nicht mehr so mobil sind.

Entschädigungsversuch zwei folgt nun heute: Das symphonische Blasorchester präsentiert einen Mix aus ihrem Senioren- und Jugendrepertoire mit anschließender Grillparty. Denn Jugendliche sind zu diesem Event auch geladen. Allerdings nicht die „Reclaimer“, sondern Mitglieder eines Fußballclubs und Kids aus einem Jugendclub. Sie sollen den Alten helfen und sie etwas betreuen. Deeskalation auf ganzer Linie, eine Aktion der Polizei in der Reihe Gewaltprävention. Frei nach dem Motto: Zum Tanz aufspielen, bevor getanzt wird.

Die Polizei plant im Rahmen ihrer Imageaufbesserungkampagne „AHA! 2000“ noch weitere Auftritte. Denn wo man singt, da lass dich ruhig nieder, böse PolizistInnen haben keine Lieder. Monatlich sollen Konzerte im Seniorenstift stattfinden. Ähnliche Events in anderen Bezirken sind jedoch nicht geplant. „Das wäre zu teuer. Nach dem 1. Mai in Kreuzberg müssten wir dann ja vor jedem Haus spielen“, gab Polizeisprecher Hans-Jörg Dräger zu bedenken.

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