Schröders Osttour –reise und herrsche

Der Politiker als Nomade: Auch im Jahr 2000 kann der Staatsmann von einem Raum nur Besitz ergreifen, indem er ihn mit seinem Körper ausfüllt

Auch und gerade in demokra-tischen Zeiten muss ein Herrscher reisen, um sich der Loyalität seiner Untertanen zu versichern.Besondere Mobilität zeigt der moderne Spitzenpolitiker in Zeiten des Wahlkampfs. Regieren ist Reisen

von RALPH BOLLMANN

Regieren könnte so bequem sein. Gerade erst hat die bundesdeutsche Politik ihre Domizile in der neuen Hauptstadt bezogen. Sie sind so viel pompöser und geräumiger als in Bonn, dass die Herrschenden sie gar nicht mehr verlassen müssen. Wozu auch? Ein eingespielter Beamtenapparat exekutiert politische Entscheidungen auch in den fernsten Winkeln des Landes, der Kontakt mit dem Wahlvolk lässt sich problemlos per Funk und Fernsehen aufrechterhalten, und für den Notfall gibt es noch das Internet. In der Moderne sind die Herrscher sesshaft geworden.

Das ist die Theorie. Die Praxis sieht anders aus. Gestern: Mecklenburgische Seenplatte. Heute: der Norden Brandenburgs. Morgen: das Industrierevier von Sachsen-Anhalt. Kurzum: Kanzler Gerhard Schröder führt das Leben eines Nomaden. Zwei Jahre nach seinem Amtsantritt will er endlich von den neuen Ländern Besitz ergreifen. Dazu gibt es, auch im Jahr 2000, offenbar nur den einen Weg – körperliche Präsenz zeigen, und das bedeutet: Reisen.

Just im Zeitalter der neuen Medien kehren die Machthaber zu vormodernen Herrschaftstechniken zurück. „Wie kann ein König stark sein“, fragte der Historiker Hartmut Boockmann mit Blick auf das Mittelalter, „wenn er seinen Willen nicht generell verkündet und nicht dafür sorgt, dass dieser Wille mit Hilfe seines Beamtenapparates exekutiert wird?“ Die Antwort ist denkbar simpel: „Nur so, dass der König selber seinen Willen durchsetzt, dass er in seinem Herrschaftsbereich an möglichst vielen Orten gegenwärtig ist, dadurch also, dass er reist.“

So hielt sich Heinrich II., der im 11. Jahrhundert für 22 Jahre deutscher König war, jeweils 11-mal in Aachen und Regensburg auf, 16-mal in Magdeburg und 5-mal in Basel. Anders als Schröder mied er die Gebiete, in denen seine Macht schwach war. Er zog die Gegenden vor, in denen er – so Boockmann – „die Grundlagen für seine Machtausübung“ bereits vorfand. Bequem war dieser Herrschaftsstil trotzdem nicht: Für den Weg von Aachen nach Regensburg etwa dürfte der König, ohne Zwischenstopp, rund drei Wochen gebraucht haben. Dreißig Kilometer am Tag kam er mit seinem Gefolge voran.

Kein Wunder also, dass die Herrscher auf diese Nomadenexistenz verzichteten, sobald es möglich war. Beamtenapparat, stehendes Heer, Straßen, Kanäle – auf diesen Wegen fand der Wille des Herrschers den Weg von der festen Residenz ins fernste Dorf. Ihren Höhepunkt fand diese Entwicklung im Absolutismus: Niemals wäre es Ludwig XIV. in den Sinn gekommen, seinen Untertanen hinterherzureisen. Der ganze französische Staat war auf das Schloss von Versailles ausgerichtet – genauer: auf das Schlafzimmer des Königs.

Erst der Eintritt der Massen in die Politik brachte auch die Herrschenden wieder in Bewegung – zunächst als Heerführer, später auch in Friedenszeiten. Moderne Verkehrsmittel, allen voran die Eisenbahn, machten das Reisen so bequem wie nie zuvor. Auf diesem Gebiet war Kaiser Wilhelm II. eminent modern: Durch seine rege Reisetätigkeit förderte er nach Kräften den Kult um „unseren herrlichen jungen Kaiser“, den Diederich Heßling in Heinrich Manns „Untertan“ leibhaftig bewundern konnte. Das Kaiserreich war noch weit davon entfernt war, eine Demokratie zu sein. Aber wie der Monarch hier ein Bismarck-Denkmal und dort eine Fregatte einweihte – darin unterschied er sich kaum vom Medienkanzler Schröder.

Auch und gerade in demokratischen Zeiten muss ein Herrscher reisen, um sich der Loyalität seiner Untertanen zu versichern. Besondere Mobilität zeigt der moderne Spitzenpolitiker in Wahlkampfzeiten. Und weil in Deutschland und seinen 16 Ländern fast immer Wahlkampf ist, besteht das Regieren fast nur aus Reisen. Gipfeltreffen und Staatsbesuche, Spatenstiche und Grußworte kommen hinzu.

Angenehm ist das auch heute nicht – wie jeder weiß, der aus beruflichem Zwang nur den Bruchteil eines solchen Reiseprogramms absolvieren muss. Gewiss: Dienstwagen, Kanzlermaschine und Hubschrauber sorgen für ein Niveau an Komfort und Geschwindigkeit, von dem mittelalterliche Herrscher nicht einmal zu träumen wagten.

Gerade die enorme Beschleunigung des Transports macht den Spitzenpolitiker aber zu einer Art Frachtgut, das nach den Regeln eines fremdbestimmten Terminplans zu festgelegten Uhrzeiten an verschiedenen Orten aus- und eingeladen wird. Das Opfer dieser Prozedur hat dann stereotyp zu erklären, er freue sich über seinen Aufenthalt im Ort XY – von dem er freilich zu diesem Zeitpunkt allenfalls die Umgehungsstraße gesehen hat.

Das Treiben der Polit-Nomaden zielt in den Zeiten der Massenmedien natürlich – anders als im Mittelalter – nicht allein auf den Kreis der physisch Anwesenden. Wichtiger ist das Massenpublikum, das die Reisetätigkeit des plebiszitären Monarchen auf dem Fernsehschirm oder in der Lokalzeitung verfolgt. Trotzdem braucht ein erfolgreicher Politiker auch heute noch vor allem die Fähigkeit, ganz unmittelbar mit den Menschen zu kommunizieren. Kommt er vor Ort nicht an, kann er auch nicht jene Bilder produzieren, auf denen seine Wirkung in den Medien beruht.

Die mittelalterlichen Quellen sind voll von Beschreibungen, welche Aura der König bei seiner Ankunft verbreitete. „Kommt er in ein Kloster oder in eine Bischofsstadt, so ziehen die Geistlichen ihm feierlich entgegen, sie besingen seine Ankunft mit liturgischen Gesängen, schwenken Weihrauchfässer, entzünden Kerzen und läuten die Glocken“, schrieb Boockmann. Auch heute noch ist es erstaunlich, wie sich die Atmosphäre auf einem Marktplatz, in einer Stadthalle oder in einem Festzelt augenblicklich verändert, wenn der Kanzler den Raum betritt. Gewiss: Politiker von heute berufen sich nicht mehr auf religiöse Überzeugungen, die im deutschen König und römischen Kaiser noch den Herrscher des letzten der vier Weltreiche sahen.

Wenn aber der Strahlemann Schröder forschen Schrittes Einzug hält, mit Bodyguards und Lakaien im Gefolge – dann erzeugt die Ausstrahlung der Macht beim Publikum eine Ergriffenheit, die sich nicht allein mit schnöden Fakten wie dem Erfolg der Steuerreform erklären lässt. Diesen Effekt kann der Kanzler nur durch körperliche Präsenz erzielen, also durch Reisen. Zumindest die eigenen Anhänger lassen sich nur mobilisieren, wenn sie ihren politischen Führer mindestens einmal hautnah erlebt haben.

Noch eindrücklicher repräsentierte Schröders Vorgänger Helmut Kohl die Symbiose von Macht und Körper. Kohl war in der Lage, politische Räume schon durch schiere Massenverdrängung auszufüllen – auch über das Ende seiner Amtszeit hinaus. Angela Merkel und Friedrich Merz haben auch physisch keine Chance, aus dem Schatten des Exkanzlers herauszuragen.

Der biologische Körper des Oggersheimers ging mit dem politischen Körper des Staatsmannes eine Symbiose ein, die in der Tat an die mittelalterliche Doktrin von den „zwei Körpern des Königs“ erinnert, wie sie der Historiker Ernst Kantorowicz nachgezeichnet hat. Entsprechend „mittelalterlich“ hat Kohl auch regiert – gestützt auf ein Netz persönlicher Loyalitäten, weniger auf den offiziellen Dienstweg der modernen Apparate von Staat und Partei.

Die CDU kam auf dem Plakat, mit dem Kohl 1994 die Bundestagswahl gewann, gar nicht mehr vor. Es zeigte nichts als den massiven Körper des Kanzlers, der zwischen den Körpern seiner Untertanen badete – ganz so, wie Heinrich II. vor fast tausend Jahren in Aachen oder Regensburg, Magdeburg oder Basel einzog.

Die Demokratie hat die Mächtigen, die im Absolutismus schon sesshaft geworden waren, wieder zu Nomaden gemacht. Und so wird auch Schröder weiter reisen müssen – am Freitag noch einmal in den Osten, danach dann wieder in westdeutsche Gefilde, wo er „die Grundlagen für seine Machtausübung“ bereits vorfindet.