: Der Missverstandene
von UTA ANDRESEN
Dass das mal klar ist: Paul Latussek ist keiner, der rechtsextremes Gedankengut verbreitet. Er hat nur die Angewohnheit, gewisse Dinge in einen gewissen Zusammenhang zu bringen. Wie etwa die Worte „Nürnberger Prozesse“ und „Siegerjustiz“. Und er hat die Angewohnheit, in einem gewissen Umfeld über gewisse Dinge zu schreiben. Wie etwa in der Jungen Freiheit über die „Identitätsbewahrung unseres Volkes“. Oder in Nation und Europa über den „Mut zur geschichtlichen Wahrheit“. Auch referiert er schon mal vor einer gewissen „Gesellschaft für freie Publizistik“, auf die auch der Verfassungsschutz ein Auge hat. Und er hat die Angewohnheit, „Mitteldeutschland“ zu sagen, wenn er die neuen Bundesländer meint. Ostdeutschland schließlich ist immer noch woanders, jenseits der Oder und Neiße. Für ihn.
In der Erfurter Altstadt. Gegenüber ein mittelalterliches Fachwerkhaus. Ein paar Schritte weiter, im „Thuringia“, gute deutsche Küche. Dann ein Neubau. Unten im Fenster hängt ein Ölgemälde. Zu sehen: fünf Frauen, eine mit Säugling im Arm, Strähnen im Gesicht, Wind von vorn. Wollene Kopftücher, triste Mienen, das Ganze – damit ja jeder bemerkt, wie es gemeint ist – konsequent in braun gehalten. Daneben ein Gedicht. Der Titel: „Vertreibung aus dem Paradies“. Die Landesgeschäftstelle des Bundes der Vertriebenen in Thüringen. Hier ist klar, wer Opfer ist. Der Vorsitzende des Ganzen sitzt eine Treppe höher, trägt grün-braunes Tweed, dazu einen treuen Blick in blauen Augen. Im Hintergrund ein Wappen aus Oberschlesien, einst deutsch, heute polnisch, darunter die Ortsbezeichnung: Gogolin. Auf Deutsch, versteht sich.
Mit neun aus Gleiwitz, Oberschlesien, vertrieben. Mit zwanzig, dreißig, vierzig in der DDR am beruflichen Fortkommen als Elektroingenieur behindert sowie darin, zu sagen, was er denkt. Mit Ende fünfzig von Bundespräsident Roman Herzog mit einem „Das muss ich mir nicht anhören“ bedacht – gemeint war das, was Paul Latussek zur Vertriebenenpolitik der konservativen Regierung zu sagen hatte. Und nun, mit 63, wieder Opfer. Opfer dieser, wie er sagt „typisch westdeutschen Frage: Was darf man wann wo wem sagen?“
Mit dieser Frage geriet Paul Latussek auch am 17. Mai im Landtag zu Thüringen in Konflikt. Begangen wurde das zehnjährige Jubiläum des Landesverbandes der Vertriebenen. Paul Latussek feierte auf seine Art und fand sich am nächsten Tag in der örtlichen Presse wieder, unter der Rubrik Eklat. „Da hat sich die PDS mal wieder wie üblich bei der Landesregierung beschwert“, sagt Paul Latussek. Eine Rufmordkampagne sei das gewesen, betrieben von der PDS, unterstützt durch die Medien. Da wurde doch behauptet, er habe Flugblätter verteilt, im Parlament! Stimmt aber gar nicht. Es waren keine Flugblätter. Es waren Schriften. Und es war nicht im Parlament. Es war unten bei der Kantine.
Wie auch immer, Paul Latussek gab den Erfurter Abgeordneten an jenem Tag im Mai unter dem Titel „Was jeder Deutsche wissen sollte“ zur Kenntnis: „Die Opfer anderer Völker einer verfehlten europäischen Politik dieses Jahrhunderts, seien es Kriegsopfer, Zwangsarbeiter oder Opfer rassistisch geprägter Machtpolitik, sind ständig in aller Munde. Viel zu wenig wird davon gesprochen, was dem deutschen Volke an Leid und Elend angetan wurde – welche Opfer es bringen musste.“ Beklagt des Weiteren „die willkürliche Verschiebung der deutschen Ostgrenze an die Oder und Neiße“ und den daraus folgenden „Gebietsverlust des deutschen Reiches“. Und landet beim „Völkermord an den ostdeutschen Stämmen“.
Das war den Erfurter Abgeordneten – Flugblatt hin, Parlament her – eine Grenzüberschreitung zu viel. „Hetze“ sei dies, heißt es zunächst, der SPD-Fraktionschef Heiko Gentzel spricht gar von „nationalsozialistischem Gedankengut“, in schriftlicher Form liest sich das Ganze dann so: „Alle Fraktionen des Thüringer Landtags lehnen den Inhalt übereinstimmend in aller Schärfe ab.“
Am gleichen Abend noch wollten die Landtagsabgeordneten ihre Thüringer Vertriebenen zu einem Parlamentarischen Abend bitten. Wollten. Fünf Stunden vor der Feierstunde gibt der Landtagsdirektor Paul Latussek per Fax zur Kenntnis: „Die Durchführung des Parlamentarischen Abends hängt nach einer eingehenden Befassung des Ältestenrats in einer Sondersitzung daher davon ab, dass Sie sich vorbehaltlos in schriftlicher Form von dem Inhalt der genannten Flugblätter distanzieren.“ Das mit dem Distanzieren lässt Latussek bleiben. Warum auch? „Frau Steinbach hat das Papier gelesen und hatte keine Einwände.“ Und Erika Steinbach ist schließlich die oberste Chefin des Bundes der Vertriebenen. Paul Latussek öffnet eine Mappe, Reaktionen auf den Eklat. Die Bögen Papier fliegen: „Hier! Sympathie, Sympathie, Sympathie!“
Der Parlamentarische Abend. Da haben sich die Abgeordneten hübsch was erspart. Ob sie das ahnten? Da wollte Paul Latussek nämlich mal was fragen. Fragen, warum der Angriff auf die Erfurter Synagoge vom 20. April umgehend aufgeklärt wurde, die Schändung des Erfurter Vertriebendenkmals vom 4. März aber bis heute nicht? „Da müssen sich die Verantwortlichen mal Gedanken machen“, sagt Paul Latussek. Man stelle sich vor: Die Messingwappen an der Stele waren rausgerissen, verbogen, darüber gesprüht: „Nie wieder“. „Nie wieder – so ein Quatsch, ich frag mich: Was heißt nie wieder“, sagt Latussek. Ja, was wohl?
Heute erklärt sich Paul Latussek die Absage des Parlamentarischen Abends so: „Der Ältestenrat hat die Sache nicht überschaut, stand unter Druck.“ Unter Druck wegen der Schändung der Erfurter Synagoge. Schließlich galt es, den Ruf des Revanchismus und Rechtsextremismus von der Stadt fern zu halten. „Was hat das mit unserem Verband zu tun?“, fragt Latussek. Einen Zusammenhang müssen wohl einige gesehen haben.
Paul Latussek spricht in diesem leicht leiernden Ton, der die Klage nur andeutet, die Augen wässrig, die Gedanken driften ab, ins Philosophische, Prinzipielle: „Wisse immer, was du sagst. Doch sage nicht alles, was du weißt.“ Manchmal haben auch Sinnsprüche etwas für sich.
Kaum vorstellbar, dass dieser Mann ein Publikum von 3.000 Männern und Frauen, allesamt schon etwas betagt, derart in Wallung bringt, dass jemand von den Herrschaften ausgerechnet den konservativen Bundespräsidenten Roman Herzog als Vaterlandsverräter beschimpft. Das war bei der zentralen Veranstaltung des Bundes der Vertriebenen 1996 in Berlin. Paul Latussek redete, und Roman Herzog staunte. Es sollte ein Grußwort werden. Es wurde eine Tirade. 35 Minuten darüber, dass die Bundesrepublik sich „mehr in Kniefällen und Schuldbezeugungen ergangen hat, als sich zu den deutschen Opfern zu bekennen“. Wer sagt, „man versucht, das Selbstbewusstsein der Deutschen zu unterdrücken; ich will einfach nur normale Verhältnisse“, kann schließlich nicht nur Opfer sein. Roman Herzog zumindest verwahrte sich gegen „die falschen Aussagen“ Latusseks. Und dann kam ein Vorwurf auf, der Paul Latussek auch heute noch zutiefst kränkt: An dem „Vaterlandsverräter“ soll er schuld gewesen sein! „Ich hatte da keine Aktien drin“, sagt er. Und dass er den Präsidenten wegen der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze geißelte, das war auch nicht so gemeint? Alles nur ein Missverständnis?
So betrachtet, lässt sich beim Bund der Vertriebenen so einiges missverstehen.
Etwa das Interview, das Arnold Tölg, CDU-Abgeordneter und Landesvorsitzender der Vertriebenen in Baden-Württemberg, Anfang des Jahres der Jungen Freiheit gab und in dem er sich gegen eine Entschädigung der NS-Zwangsarbeiter aussprach. Die hätten bereits genug bekommen, tat Tölg dort kund. Zudem vergesse die offizielle Politik stets die hunderttausenden deutscher Zwangsarbeiter, die in der ehemaligen Sowjetunion, Polen, Tschechoslowakei und Jugoslawien schuften mussten. „Wenn sich diese Länder als etwas Besseres als Hitler-Deutschland fühlen, dann hätten sie ähnliche Verbrechen nicht selber begehen dürfen“, so Tölg.
Etwa die Einladung an Claudia Wiechmann zu einer Rede auf dem Nürnberger Sudetentag Mitte Juni. Diese war DVU-Fraktionschefin in Sachsen-Anhalt, ist nun Vorsitzende der rechtsextremen Freiheitlichen Deutschen Volkspartei.
Etwa die Aktivitäten der Jungen Landsmannschaft Ostpreußen, die noch zur Arbeitsgemeinschaft „Junge Generation im BdV“ gehört und der der Verfassungsschutz „keine Berührungsängste zum rechtsextremistischen und neonazistischen Spektrum“ attestiert.
Und Paul Latusseks Engagement in der rechten Jungen Freiheit oder Nation und Europa? Auch ein Missverständnis? Aber sicher. Schließlich schickt er, Latussek, seine Artikel zur Vertriebenenfrage an alle Presseorgane. Weil es „bei der Verkündigung der Wahrheit keine Schranken geben darf“.
Bleibt nur die Frage, ob der Bund der Vertriebenen – Mitglieder: zwei Millionen – es auch nicht so gemeint hat, als seine Bundesversammlung Paul Latussek als Vizepräsident ins Präsidium, sein höchstes Entscheidungsgremium, wählte. Am 20. Mai, drei Tage nachdem Paul Latussek den Thüringer Abgeordneten zur Lektüre gab, „was jeder Deutsche wissen sollte“.
Irgendwann sagt Paul Latussek: „Die Heimatvertriebenen wollen im Grundsatz nicht, dass sie von Extremisten missbraucht werden.“ Da haben sie sicher nichts zu fürchten, solange sie einen Vizepräsidenten wie Paul Latussek haben.
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