Schröder in der Löwengrube

Als Festredner beim Tag der Heimat gab sich der Bundeskanzler im Ton konziliant. Er erklärte den Vertriebenen aber auch das Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung ihrer Flucht. In Fragen zur Erweiterung der EU blieb er beinhart

von CHRISTIAN SEMLER

Gestern beim Festakt des Bundes der Vertriebenen zum „Tag der Heimat“ in Berlin bewies Bundeskanzler Schröder Geschick und Mumm. Er hatte allerdings auch wenig zu verlieren, denn die heute noch organisierten Heimatvertriebenen bilden nicht gerade eine Wählerreservoir der SPD. Schröder ergriff die Gelegenheit beim Schopf, die Charta der Vertriebenen, die gerade im August ihren 50. Geburtstag hatte, ausgiebig zu feiern. Er beschwor die Situation der Flüchtlinge und Vertriebenen im Jahr 1950, Massenarbeitslosigkeit, Wohnungselend, die verzweifelte Hoffnung auf Rückkehr. Hätte, so Schröder, diese trostlose Lage nicht Nährboden sein können für eine extremistische Demagogie? Stattdessen Verzicht auf Rache, Vergeltung und das Bekenntnis zum einen Europa.

Eingepackt in diese herzwärmende Würdigung erfolgte Kritik: Der Kanzler zitierte den Satz aus der „Charta“, nach dem die Vertriebenen „vom Leid am schwersten betroffen gewesen sind“ und charakterisierte die Aussage als nicht haltbar. Er fügte allerdings hinzu, dass damals niemand von den Vertriebenen hätte verlangen können, „ihr eigenes Schicksal zu objektivieren“. Schröder fand klare Worte für das Verhältnis von Ursache und Wirkung bei den Vertreibungen der Deutschen aus den ehemaligen „Ostgebieten“, worüber in der „Charta“ nichts zu finden ist. Am Anfang war der deutsche Aggressionskrieg, auf ihn folgten die Vertreibungen und Morde an der Bevölkerung in den besetzten Ländern. Beifall erhielt Schröder, als er sagte, aus der Verantwortung für das erste Unrecht könne man keine moralische Rechtfertigung für das zweite, die Vertreibung nach 1945, ableiten. Allerdings wies er auch auf die grundlegend neue politische wie moralische Lage hin, die nach den Revolutionen von 1989 entstanden sei. Damals hätten sich die Völker, mit einem Wort von Havel, „zur Wahrheit befreit“. Ein solcher Befreiungsakt hieße für die Vertriebenen, heute anzuerkennen, dass „Verzicht nicht Verrat bedeutet“. Es gelte, sich der Zukunft zuzuwenden. Es gelte, sich dafür einzusetzen, dass sich das „Jahrhundert der Vertreibungen nie mehr wiederholt“.

Der Bundeskanzler versuchte sich auch zum Thema Heimat in einer Art Lockerungsübung. Die Heimat als behagliches Heim, wo man Schutz von Unbill sucht – sie hat ausgespielt. Dafür sorgt schon die Globalisierung. Heimat, so meinte er, müsse zum Ort einer im Alltag gelebten Identität werden, von dem aus der Blick in die Welt geworfen wird. Die verlorene Heimat im Osten gelte es kulturell zu bewahren – als historischen Bestandteil der deutschen „Kulturnation“. Kulturnation – Staatsnation: Was die Bundesrepublik anbelangt, so steht sie voll zu allen völkerrechtlichen Vereinbarungen. Hier sprach Schröder Klartext. Er verwies auf die gemeinsame Erklärung mit Tschechien, bekräftigte, dass Deutschland keine Entschädigungsforderungen der Vertriebenen unterstützen und deshalb auch keinerlei Junktim aufstellen wird zwischen den Beitrittsverhandlungen von Polen und Tschechien zur EU und Forderungen der Vertriebenen. Im Bezug auf die Benes-Dekrete machte sich der Bundeskanzler die Formulierung von Tschechiens Präsident Václav Havel zu eigen, dass diese Dekrete „in ihrer Wirksamkeit erloschen sind“.

Den Plänen der Vertriebenen für ein vom Bund unterstütztes „Zentrum gegen Vertreibungen“ erteilte Schröder eine Absage. Er plädierte für die Unterstützung der bestehenden dezentralen Kultur- und Begegnungsstätten. Hier gab es den einzigen Zwischenruf, zum Schluss aber doch artigen Beifall.