: Invasionsübung
Die Tokioter Erdbebenübung wird als Armeeeinsatz gegen aufrührerische Arbeiter und Ausländer gedeutet
TOKIO taz ■ Ohrenbetäubender Hubschrauberlärm weckte die Menschen im Arbeiterviertel Sanya am frühen Sonntagmorgen. Aus Armeelastwagen strömten kurz darauf tausende Soldaten der japanischen Selbstverteidigungstruppen (SDF), besetzten wichtige Kreuzungen und riegelten das Viertel ab. „Es kam mir vor wie eine Invasion“, sagte eine Verkäuferin, die das Spektakel mitverfolgt hatte.
Die Besetzung von Sanya war Teil der größten Erdbebenübung, die in Japans Hauptstadt Tokio je abgehalten wurde. Unter dem Titel „Rettet Tokio 2000“ wurde der Ernstfall geübt und erstmals erhielt die Armee die Oberaufsicht über die Rettungseinsätze. 7.200 Soldaten, 1.100 Armeefahrzeuge, 115 Hubschrauber und 22 Kampfboote waren aufgeboten worden. 25.000 Bürger spielten an zehn Orten der Stadt die Opfer eines simulierten Erdbebens mit einer Stärke von 7,2 Punkten. Die Übungsleiter gingen davon aus, dass 7.000 Menschen umgekommen, 160.000 verletzt und 2,3 Millionen Einwohner obdachlos geworden wären. „Solch riesige Übungen sind notwendig, um auf den Zusammenbruch sämtlicher Funktionen in der Stadt vorbereitet zu sein“, erklärte Toshiyuki Shikata, ein pensionierter Armeegeneral, der von Gouverneur Shintaro Ishihara als Berater für Katastropheneinsätze hinzugezogen wurde. Selbst Premier Yoshiro Mori flog am frühen Morgen in Katastrophenuniform ein. Seit Freitag wurde in ganz Japan der Ernstfall geprobt.
Bürgergruppen empfanden die Invasion der Soldaten als Provokation, weil Ishihara in einem Vortrag angekündigt hatte, dass die Armee im Katastrophenfall zur Unterdrückung von Aufständen, insbesondere von Zuwanderern aus Korea und China, eingesetzt würde. Bürgerorganisationen forderten deshalb eine strikte Unterordnung der Armee unter eine zivile Katastrophenleitung. Mit der Einrichtung des Einsatz-Hauptquartiers im Verteidigungsministerium wurde aber de facto der Armee der Oberbefehl erteilt. „Damit sind die Funktionen der Selbstver- teidigungskräfte ohne klare Gesetzesgrundlagen ausgedehnt worden“, sagte Ichiro Urata, Rechtsprofessor an der Hitotsubashi-Universität. ANDRÉ KUNZ
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