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Big Banalität

Unfassbar! Ein Medienphänomen geht in die zweite Runde. Und wir bekommen im neuen Jahrtausend, was wir verdient haben: die nächsten Zlatkos, Sabrinas, Johns und Alexes dieser Welt

von CHRISTOPH SCHULTHEIS

„Big Brother – das ist doch platteste Banalität!“ (Charlotte Grace Roche, Viva 2-Moderatorin)

Am Tag des großen Finales hatten wir Freunde geladen. Der kleine Fernsehapparat stand in der Zimmerecke, die Freunde hatten – „Überraschung!“ – einen hölzernen Stößel, kiloweise Eiswürfel, haufenweise Limetten, Rohrzucker und reichlich Zuckerrohrschnaps mitgebracht. Die Küche klebte und knirschte, wir ergingen uns eher beiläufig in lässig-einmütigem Fatalismus, weil ein gewisser „Jürgen“ als Sieger aus der Container-Show hervorgehen würde . . . Dann gewann „John“. Wir waren mal kurz sprachlos und konn- ten es nicht fassen. (Fortsetzung folgt . . .)

Und nun geht es wieder los. Es geht tatsächlich wieder los: Pünktlich zum Start der zweiten Staffel stellt beispielsweise die Firma Ritex ihre „Big Brother“-Kondome an die Tankstellen im Lande. Pünktlich zum Start ist Jenny Elvers von einem gewissen „Alex“ schwanger, durften auch die anderen Ex-Bewohner noch einmal aus dem Nähkästchen plaudern: eine gewisse „Sabrina“ in Max, eine „Kerstin“ in der Woche, „Jürgen“ im Stern, „Andrea“ & „Manu“ in der Bild – und ein gewisser „Roger Willemsen“ in der Zeit.

Irgendwie geil

Pünktlich zum Start ist die erste Staffel für den Deutschen Fernsehpreis nominiert, was ein gewisser „Lutz Hachmeister“ im Tagesspiegel irgendwie geil, ein „Norbert Schneider“ und die Süddeutsche aber ziemlich uncool finden. Tags darauf kommt – wiederum beispielsweise – der Tagesspiegel selbst in seiner hinterhergehechelten „Ally McBeal“-Würdigung nicht ohne Verweis auf einen gewissen „Zlatko“ aus; die Welt weiß derweil, dass die Landesmedienanstalt Nordrhein-Westfalen (LfR) nichts weiß, jedenfalls nichts wissen will von einer geplanten 24-Stunden-Übertragung des Containerlebens im Digital-TV, mit der RTL 2 bereits überall herumprahlte. Ach, und dann verriet die Bild auch noch vorab die streng geheimen neuen Kandidaten, während ein gewissenloser „Andreas Türck“ auf Pro7 in Sachen „Big Brother! Jetzt geht der Wahnsinn wieder los!“ zum Gedankenaustausch lud – und Roger Willemsen im WDR zum Thema „Das heimliche Auge – das Ende der Intimität“. Beispielsweise. Nur beispielsweise (hechel). Im Laufe der WDR-Sendung fiel dann übrigens auch der eingangs zitierte Satz von der „plattesten Banalität“.

Komplexe Idee

Der Vorwurf ist ja weit verbreitet – und falsch. Im Ernst: „Big Brother“ ist mitnichten das oberflächlichste, trashigste, einfallsloseste Stück Fernsehen der Gegenwart, sondern das komplexeste. Keine Frage, die Grundidee ist simpel (ähnlich simpel wie etwa die „Tagesschau“), ihr Regelwerk schnell erklärt (aktuelle Nachrichten werden täglich nach Wichtigkeit sortiert, aufbereitet und der Öffentlichkeit innerhalb von 15 Minuten mitgeteilt); die Show selbst kommt ausgesprochen unspektakulär daher. Wen kümmert’s? Ihre Wirkung jedenfalls, ihr Erfolg, ihr Echo ist überwältigend. Warum? Weil – wir – es – nicht – fassen – können. Und am wenigsten wohl RTL 2 und die Produktionsfirma Endemol selbst (s. Foto).

Da ist etwas möglich geworden. Unfassbar! Das beunruhigt.

Es beunruhigt, dass sich über „Big Brother“ offensichtlich mindestens so viel sagen lässt wie über Benzinpreise, die Expo, Rechtsradikalismus oder dergleichen. Dergleichen beunruhigte den Innenminister, es beunruhigte den Bundespräsidenten. Und es beunruhigt, dass Schily und Rau ihrem unqualifizierten Drang nachgaben, sich in Sachen „Big Brother“ quasi ex cathedra äußern zu wollen.

Leere Avantgarde

„Big Brother“ funktioniert. Nur: Warum, weiß keiner. Die TV-Show hat eine geradezu avantgardistische Eigendynamik entwickelt und macht in ihrer Bedeutungslosigkeit doch allerhand transparent. Auch das mag beunruhigen: Wie sehen plötzlich dabei zu, wie Stars designt werden und mit ihnen Quoten, Auflagen, Politik; wir lernen ganz nebenbei ganz wichtige Dinge, für die wir uns sonst nie interessieren würden: etwa dass RTL und RTL 2 gar keine Sender mit ähnlichen Namen sind, sondern zwei Programme derselben Senderfamilie, die sich nun sogar eine einzige Sendung teilen: Die tägliche Show zeigt wie gehabt RTL 2, der wöchentliche Showdown steigt beim großen Bruder RTL.

Außerdem erfahren wir, wie Medienaufsicht funktioniert (bzw. scheitert) und die LfR und Deutschland. Und wer beispielsweise immer noch dachte, Klaus-Jürgen Wussow sei deshalb in den Schlagzeilen, weil er ein bekannter Schauspieler sei oder Scharping ein Minister, ahnt inzwischen, dass sie allzu oft aus dem gleichen Grund auf die Titelseiten kommen wie „Zlatko“: nämlich keinem.

Das mag man bedenklich finden. Aber die Zeit ist anscheinend reif dafür. Nur wir sind’s nicht. Bis zum 31. 12. 1999 wusste kein Mensch, was ihn im neuen Jahrtausend erwartet. Nun lautet eine erste Antwort: „Beispielsweise Big Brother.“

Ach ja: Später, das große Finale war längst vorüber, aber die Caipirinhas wollten partout kein Ende nehmen, gestand eine Freundin, sie habe es sich die ganzen hundert Tage über vorgenommen, mal „Big Brother“ zu gucken – aber es sei ihr nicht ein einziges Mal gelungen, immer sei irgendwas dazwischengekommen. Und wir, bester Laune, waren mal kurz sprachlos und konnten es nicht fassen.

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