piwik no script img

Kreatives Zögern

Die Visionen der neuen Schauspielhaus-Regisseurin Ingrid Lausund. Ein Porträt  ■ Von Petra Schellen

Irgendwie ist es wie mit dem Hasen und dem Igel. Irgendwie ist sie unauffällig immer schon da, noch bevor man sie bemerkt hat – und irgendwie auch gleich wieder weg. Dabei treibt sie kein absichtliches Versteckspiel, die junge Regisseurin Ingrid Lausund, die seit dieser Spielzeit am Deutschen Schauspielhaus inszeniert. Sie tritt eben nur nicht gern aus der Gruppe heraus – ihrem Schauspieler-Team, dem sie sich stark verbunden fühlt.

Das muss sie auch, hatte sie doch bei der ersten Probe zum Stück „(Noch) Ohne Titel“, das am 29. September uraufgeführt wird, keine Zeile Text in der Hand, keine Wort-Materie also, an der die Akteure sich festhalten konnten. Und auch jetzt kann sie noch nicht sagen, wie das Stück ausgehen soll; wozu muss man auch immer zuerst das Ende wissen, wir sind hier schließlich nicht im Krimi. „Eher in einer Komödie“, sagt Ingrid Lausund, sich ans Thema herantastend wie eine Fledermaus, die die Umgebung nach störenden Schwingungen absucht, sich behutsam und geschickt im Dunklen bewegt. Denn in der Finsternis tappt sie tatsächlich – nicht nur im schwarzgrundigen Saal des Neuen Cinemas, der seinen Kino-Charakter für die Proben nur widerwillig aufgab, sondern auch im Umgang mit den Schauspielern, aus denen doch letztlich ihr Stück bestehen soll.

Was sollen die aber nun machen auf der Bühne, wieso gibt sie denen kein fertiges Stück in die Hand, weshalb lässt sie sie hilflos im Raum umhertappen, nicht nur bei der ersten und zweiten Probe, sondern vielleicht auch bei der zehnten noch; was erwartet sie überhaupt von denen? „Ich möchte ein Stück spielen, das von ihnen handelt“, betont Ingrid Lausund, „und dafür muss ich sie ja erstmal kennen lernen“ – eine Methode, die ihr bunt gemischtes Hamburger Ensemble gern aufgegriffen hat: „Ich weiß es zu schätzen, dass auch die erfahreneren Schauspieler diese lange Improvisationsphase mitmachen“, bekennt die 35jährige, aus Ingolstadt stammende Regisseurin, die 1991 bis 1992 am Theater Ravensburg arbeitete und 1998 vier Monate lang im kasachischen Almaty inszenierte. „Und ich weiß auch, dass diese lange Ungewissheit quälend ist. Eine Zeitlang macht es Spaß, ein non-existentes Thema zu umspielen. Aber irgendwann wollen die Akteure wissen, wie es weiter geht.“

Dabei ist dieses bewusste Überschreiten der Geduldsgrenze für Ingrid Lausund die wirkungsvollste Methode, um herauszufinden, was in den Schauspielern steckt: „Ich zeichne natürlich kein Porträt von ihnen, ich stelle sie nicht persönlich aus, aber ich fokussiere eine markante Eigenschaft – ihr Temperament, ihre Energie oder eine Kons-tellation.“ So genau kann sie letztlich gar nicht sagen, aus welchen Facetten sie schließlich, nach langem Zögern, dann doch eine Geschichte zusammenfügt. „Das muss sich im Lauf der Proben ergeben“, sinniert sie. „Wenn zwei auf die Bühne gehen, ist zum Beispiel einer von ihnen immer schneller. Diese Situation kann man theatralisch weiterentwickeln, da kann man was draus machen" – aber was genau, das sagt sie schon wieder nicht. Soll sie, kann sie und will sie auch nicht – denn dieses behutsame Tasten ist Teil ihres Konzepts: „Bin ich gut genug, wann genüge ich, was glauben die anderen, wann ich genüge“ – dies seien zentrale Fragen ihres Stückes, sagt sie – ein nicht zufällig ihre eigene Situation spiegelnder Focus.

Um Konstellationen geht es – um Figuren, die einander wie galaktische Lichtpunkte umkreisen, ohne dass man ihre Bewegungen vorhersagen könnte, weil sie Gesetzen folgen, die außerhalb unserer Wahrnehmung liegen. Und genau um diese Kompromisse zwischen Eigen- und Fremdanspruch geht es Ingrid Lausund, und ihr scheinbares Zögern ist Ausdruck jener Bereitschaft, den Gesetzen des Ensembles zu folgen. Aber irgendwann... muss sie natürlich doch ein Stück formen und Facetten zusammenfügen, und hier setzt die zweite quälende Phase ein: „Wenn ich die Mosaiksteine erahne, Lichter aufglimmen sehe, aber noch nicht weiß, wo sie sich berühren werden. Das ist anstrengend, auch für mich, zumal mit der Entstehung einer stringenten Fabel sofort Schauspieler-Mechanismen einsetzen“ – und Ingrid Lausund sich abermals genötigt sieht, Verhaltensmuster aufzubrechen, die Schauspieler von sich erzählen zu lassen, ohne sie bloß zu stellen, ohne ihnen aber auch zu erlauben, sich ab jetzt doch hinter ihren Rollen zu verschanzen wie bei einem vorgefertigten Stück, „denn da reden die oft aneinander vorbei, weil sie nur noch ihre Rolle spielen, stur geradeaus.“

Und das möchte Ingrid Lausund auf keinen Fall, weder stur noch geradeaus, was aber nicht heißt, dass sie nicht wüsste, wo sie hin will: „Die Schauspieler sollen das Stück von innen her entwickeln, ihr gemeinsames Thema finden, und wenn sie das gefunden haben, wenn sie den Kern verstanden haben – dann ist die Inszenierung selbst schnell gemacht.“

Und deshalb erarbeitet Ingrid Lausund sozusagen en passant den Text, tags oder nachts, jedenfalls zwischen den Proben. Ein Gesamtkunstwerk aus Probe und Text entsteht hier also, das nur begrenzt reproduzierbar ist: Solch ein Stück gehört aufgeführt, jetzt, hier – und möglichst nicht nachgespielt: „Das würde gar nicht gehen; ich schreibe es ja für diese bestimmten Schauspieler“, sagt sie, verabschiedet sich – und ist auch schon weg. Weggeschlichen zu ihrem Team.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen