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: Der „Merkur“-Doppelband über Europa und die USA

Projekt Gelassenheit

Gut hermeneutisch gesprochen: Zur Disposition steht die Fraglichkeit der Frage selbst. „Europa oder Amerika?“ lautet sie, und man muss den Band nicht gleich des Kategorienfehlers bezichtigen, um hinter der dramatischen Titelfrage zu sehen, was die rund 30 Beiträge des aktuellen Doppelheftes der Zeitschrift Merkur ohnehin verfolgen: dass sich das allgegenwärtige Gespenst der Amerikanisierung längst zur Globalisierung gemausert hat.

Dass die Lage des Westens jedenfalls nicht als plane Konfrontation zwischen Alter und Neuer Welt verstanden werden kann, betonen auch die Herausgeber: Statt zweier „miteinander ringender Gullivers“ sehen sie eine „Unzahl von Liliputanern“ an der globalen Arbeit, und gegen das unifying concept der Amerikanisierung sprechen daher auch zwei gute Gründe. Zum einen – will man nicht Widerspruch aus dem soziologischen Lager ernten – der, dass zur Beschreibung der Weltgesellschaft entschieden von Einheit auf Differenz umgestellt werden muss; Globalisierung meint eben immer auch eine (fraglos konfliktträchtige) Regionalisierung. Zum anderen, dass die Einheit Europas, die sich der Amerikanisierung widersetzen könnte, eine Chimäre ist, weil, so Richard Herzinger, Europa kaum mehr als „universalistische Maximen“ in den Ranzen seiner fadenscheinigen Identität zu schnüren vermag und weil es, so Karl Heinz Bohrer, von derart intensiven Widersprüchen durchzogen ist, dass die „europäische Konföderation“ auf der Strecke bleiben musste.

Immerhin, es gibt Ausnahmen in diesem Trend von der Amerikanisierung zur Globalisierung, und wo die Amerikanisierung noch einmal ernst genommen wird, steigt die performative Temperatur aufs angenehmste. Hier, bei Richard Rorty, Manfred Henningsen und Claus Koch, hat die wohltemperierte Gelassenheit ein Ende, weil aus der Amerikanisierungsdiagnose ein „Plädoyer für einen Wettstreit“ (Henningsen) erwächst: Wenn, wie Claus Koch mit posthistorischem Charme glaubt, die „amerikanische Überherrschaft“ kurz vor ihrer geschichtlichen Vollendung steht, weil die „Organisation der Weltmärkte“ restlos „von amerikanischem Geist“ geprägt ist, oder wenn Manfred Henningsen den „hegemonialen Status der USA“ zum bevorstehenden „Untergang des europäischen Abendlandes“ erklärt, dann müssen die Europäer zum „Kampf um das Erbe des Westens“ (Henningsen) rüsten.

Doch auch jenseits solcher Aufgeregtheiten versteht man sich prächtig. Ins Zentrum der zur Globalisierung ausgewachsenen Amerikanisierung treffen jedenfalls eine Reihe von instruktiven Beiträgen, die deutlich machen, dass Globalisierung – allem kulturindustriellen Amerikanisierungsverdacht zum Trotz – keine Einbahnstraße ist. Die moderne Weltgesellschaft erzeugt nach Claus Leggewie vielmehr „Hybridkulturen“, die Regionales und Globales zusammenzwingen. Wenn eine antiamerikanische Barbie, die die regionale Identität der arabischen Staaten gegenüber der amerikanischen Hegemonie bekräftigen soll, dennoch mit amerikanischen Marketingstrategien vertrieben wird oder McDonald's vice versa die „friedliche Fressgemeinschaft“ mit ihren ethnischen Wochen erfreut, wird deutlich, wo der Hase im Pfeffer liegt: Regionales und Globales verstärken sich gegenläufig aneinander. Der Anspruch auf regionale Besonderheit wächst einerseits mit der Inklusion in die Weltgesellschaft, andererseits jedoch wird er universalisiert, weil er auf eine „Struktur gemeinsamer Unterschiede“ bezogen ist.

Vielleicht verraten die italienischen Wochen in der Tat mehr über Globalisierung als alle dickleibigen Publikationen, die die zweite Moderne entdeckt zu haben glauben. Und wenn die vermeintliche Amerikanisierung immer schon auf regionale Widerstände und beinharte kulturelle Selbstbesinnungen stößt, dann ist der Schritt zur Virtualisierung des Problems nicht weit. Philipp Gassert zeigt in einer grundlegenden begriffsgeschichtlichen Studie, dass der gegenwärtige Amerikanisierungsdiskurs nicht nur um seinen eigentlichen Impuls – die ideelle Hegemonie des „liberalen Verfassungsstaates und der repräsentativen Demokratie“ – gestutzt wurde, sondern vor allem ein Effekt regionaler Rezeption ist, die die „Amerikanismen“ immer durch die Filter der europäischen Kulturen gleiten lässt. So viel rezeptionsgeschichtlicher Konstruktivismus darf schon sein: Jede Amerikanisierung ist eine Europäisierung, weil die Amerikanismen nicht frei schwebend in europäische Wohnzimmer dringen, sondern immer einen lokalen Beobachter benötigen.

An Kunst und Literatur wird diese Produktionslogik nicht zuletzt besonders sinnfällig. In einer kursorischen Lektüre europäischer Amerikareisender führt Gerd Raeithel vor, was es heißt, Amerika gesehen, gerochen, gefühlt und geschmeckt zu haben: es nämlich gerade nicht gesehen, gerochen, gefühlt und geschmeckt zu haben, weil die europäischen Intellektuellen lediglich kulturellen Stereotypen aufgesessen sind. Hier gilt die bewährte Regel des Reiseberichts: Schreib auf, was du immer schon wusstest.

Noch eines fällt in diesem Projekt der publizistischen Gelassenheit auf: Wer heute über Amerika spricht, befindet sich gleichsam in einer postkolonialen Situation. Auch aus Amerika scheint uns, zumindest im Blick auf gewisse politische und kulturelle Spezialitäten, ein talking back zu erreichen, dem der Europäer eine grundsätzliche Verstehensbereitschaft entgegenbringen muss – dies gilt für die ungebrochene Popularität der Todesstrafe (Götz-Dietrich Opitz) oder den verknöcherten Sexualmoralismus (Mariam Lau), der die amerikanische Gesellschaft unablässig durchwandert.

In einer Marginalie erinnert Niels Werber schließlich daran, dass der europäischen Gutmütigkeit gegenwärtig eine ebenso aggressive und heimtückische „Hegemonie neuen Typs“ (Zbigniew Brzezinski) entgegenschwappt. Sie hört auf den Namen des „Infowar“ (Paul Virilio) und sieht in der globalen Kontrolle des Internets und der Massenmedien eine „Full Spectrum Dominance“, die Japan und die EU zu Protektoraten der amerikanischen Hegemonie erklärt. So bleibt, immer aufs Neue, die eine Empfehlung: Test the West.

INGO STÖCKMANN

„Europa oder Amerika? Zur Zukunft des Westens“. Merkur, hg. von Karl Heinz Bohrer und Kurt Scheel, Heft9/10, 54. Jg., 301 Seiten, 36 DM