: Gefangen in Traditionen
Das jüdische Leben in Deutschland wird offener und liberaler. Doch die jetzigen Verbandsstrukturen lassen Pluralismus kaum zu. Eine Bestandsaufnahme
von PHILIPP GESSLER
Wenn der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma ein rundes Jubiläum begeht, wird über das Ereignis allenfalls auf den hinteren Seiten der Tageszeitungen berichtet. Wenn der Zentralrat der Muslime in Deutschland einen Geburtstag feiert, werden die meisten überrascht sein, dass es so etwas überhaupt gibt.
Anders beim Zentralrat der Juden in Deutschland. Im Sommer ist er 50 Jahre alt geworden, und zum Festtag heute in Berlin werden die oberen Zehntausend der deutschen Politik erwartet; auch Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) wird reden. Warum diese öffentliche Beachtung? An den Zahlen liegt das nicht – nur etwa 85.000 Mitglieder hat der Zentralrat: ein „Promille der Bevölkerung“, bemerkt der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt am Main, Salomon Korn, spitz. Muslime gibt es hierzulande über 2,8 Millionen, Baptisten über 87.000.
Der Zentralrat der Juden in Deutschland ist etwas Besonderes. Das liegt an den nichtjüdischen Deutschen, die während des Zweiten Weltkriegs über sechs Millionen Juden ermordet haben oder ermorden ließen – nach der Shoah hielten es die meisten Juden für nicht mehr möglich, dass sich auf diesem „blutgetränkten Boden“ noch mal jüdisches Leben entwickeln könnte (s. unten). Dennoch gelang es, und der Zentralrat, am 19. Juli 1950 in Frankfurt am Main gegründet, hat einen großen Anteil daran. Paul Spiegel, seit Januar Präsident des Zentralrats, spricht vor diesem Hintergrund sogar von einem „beispiellosen Erfolg“ dieser Arbeit, „trotz mancher Kritik und manchem Misserfolg“.
Doch der Verband der 83 Jüdischen Gemeinden und 16 Mitgliedsverbände in allen Bundesländern ist starker interner Kritik ausgesetzt – und so, wie er jetzt aufgebaut ist, steht nicht zu erwarten, dass er ihr gerecht werden kann.
Da sind zunächst die Frauen: Die Vorsitzende der Münchener Gemeinde, Charlotte Knobloch, kandidierte zwar für den Präsidentensitz, nachdem Ignatz Bubis im Sommer letzten Jahres überraschend gestorben war – aber kaum überraschend war, dass statt ihrer der Multifunktionär Paul Spiegel gewählt wurde. Die überwiegende Mehrheit der im Zentralrat vertretenen Gemeinden hat eine traditionell-orthodoxe religiöse Tradition: Frauen haben im Gottesdienst nichts zu sagen, sind in der Regel auf die Empore verbannt, und es gibt nur eine Gemeinderabbinerin in Deutschland. Da wäre es erstaunlich gewesen, wenn der Zentralrat von einer Frau angeführt worden wäre, auch wenn er bloß die politische Repräsentanz der Juden in Deutschland darstellt. Im neunköpfigen Präsidium ist als einzige Frau noch Irina Knochenhauer aus Potsdam vertreten – es gebe eben keine Quoten, es gehe nur nach Qualifikation, betont Salomon Korn. Ob das reicht?
Bedeutender ist das Problem der Zuwanderer aus den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion, die vor allem in den vergangenen zehn Jahren nach Deutschland kamen. Dadurch verdreifachte sich die Zahl der Juden hierzulande – und Spiegel erwartet für die kommenden Jahren sogar noch einmal 30.000 neue Gemeindemitglieder. Manche Gemeinde haben so gut wie keine deutschsprachigen Mitglieder mehr, zwei Drittel der Juden in Deutschland sind mittlerweile aus Osteuropa, und immer wieder kochen Konflikte zwischen den „Deutschen“ und den „Russen“ hoch, die in den kulturellen und sprachlichen Unterschieden begründet liegen. Im Zentralrat sind die „Russen“ eklatant unterrepräsentiert, im Präsidium muss wieder Irina Knochenhauer als Feigenblatt herhalten. Sie wurde 1964 im damaligen Leningrad geboren und kam schon 1983 nach Deutschland – „als Neuzuwanderin im engeren Sinn kann man sie eigentlich nicht bezeichnen“, schreibt die Allgemeine Jüdische Wochenzeitung (AJW), die über die Jüdische Presse GmbH vom Zentralrat herausgegeben wird.
Dass die Zuwanderer so gut wie keine Vertretung im Zentralrat haben, verbittert viele: „Die machen, was sie wollen“, klagt Jurij Russanovskij, seit neun Jahren in Deutschland. Der 57-Jährige hat mit Gleichgesinnten einen Gemeindeverband in Rheinland-Pfalz gegründet, der mit dem etablierten Landesverband im Clinch liegt. „Niemand weiß, was die im Zentralrat machen“, beschreibt er die Stimmung vieler „Russen“. „Für uns Russen machen die nichts.“
Dem hält der Vorsitzende des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Niedersachsen, Michael Fürst, entgegen, dass der Zentralrat eben eine Versammlung von Delegierten aus den Gemeinden sei – und wenn die keine Russen als Delegierte aufstellten, könnten sie auch nicht im Zentralrat landen. Die Zuwanderer seien zudem so oder so „Hauptthema“ des Zentralrats. Salomon Korn aus Frankfurt meint, es sei lediglich „eine Frage der Zeit“, bis die Russen über ihre Gemeindegremien auch einen Platz im Zentralrat bekämen – spätestens beim 75-jährigen Jubiläum sei eine Präsidentin mit Zuwandererhintergrund nicht auszuschließen. Nur: Wollen die Russen so lange warten?
Zum wohl größten Problem des Zentralrats wächst sich derzeit der Umgang mit den progressiv-liberalen Gemeinden aus. Sie sind seit 1997 als „Union progressiver Juden in Deutschland, Österreich und der Schweiz“ in einem Verband vereinigt und haben im Mai dieses Jahres eine zentrale Geschäftsstelle in Berlin eröffnet. Bundesweit gehören der „Union“ zwar nur elf Gemeinden an – aber der Zentralrat reagierte pikiert auf die Gründung des Verbands. Obwohl sich die „Union“ nur als religiöse Vertretung verstehe, sehe der Zentralrat offenbar eine Konkurrenz in ihm, beklagt Hartmut Bomhoff, der Leiter der „Union“-Geschäftsstelle. Der Zentralrat gehe auf Gesprächsangebote nicht ein, kritisiert Bomhoff. Salomon Korn bestätigt, Gespräche seien bis Ende des Jahres lediglich mit der Mutterorganisation des Verbands, der „World Union for Progressive Judaism“, vorgesehen. Denn bei manchen dieser Gemeinden bestehe die Frage, ob sie mehr seien als ein niederschwelliges Angebot für konvertierungswillige Christen.
Der Konflikt brodelt. Michael Brenner, seit 1997 Inhaber des neu gegründeten Münchener Lehrstuhls für „Jüdische Geschichte und Kultur“, warnte in der Jubiläumsausgabe der Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung kaum verschlüsselt davor, die progressiven Juden zu vernachlässigen: „Man kann außerhalb der Gemeinde entstehenden Initiativen weder durch Unterdrücken noch durch Totschweigen begegnen.“ Da helfe nur eines: „Es besser machen.“ Eine weitere biblische Zeitspanne von 50 Jahren zwischen zwei Jubeljahren wird der Zentralrat der Juden nicht Zeit haben, diese Probleme zu lösen.
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