Rechts, wo der Alltag ist

Die gegenwärtige Welle fremdenfeindlicher Gewalttaten ruft – wie jedesmal bislang – helle moralische Entrüstung und tiefen Abscheu hervor. Jedoch ist Misstrauen angesagt, ob diese Entrüstung sich wirklich auf die fremdenfeindlichen, rassistischen Aspekte des rechtsextremen Verhaltens bezieht oder ob sie sich nicht vor allem und letztlich nur gegen die Gewalttätigkeit der Tätergruppen wendet, gegen die Politik der Straße, des Pöbels, gegen Selbstjustiz und direkte Demokratie, von unten. Fremdenfeindseligkeit wird zum Skandal, wenn sie beim Bürger das Feld von Meinung und verbaler Äußerung verlässt und aggressiv, gewalttätig wird. Das ist gut so, und schlecht daran ist nur, dass die Empörung so spät kommt und nur die eine Form gewaltförmiger Diskriminierung trifft, die nämlich, die von unten kommt; dass sie sich erst dann gegen Fremdenfeindlichkeit wendet, wenn diese sich verbindet mit Gewalttätigkeit von unten.“[1]

Das Zitat klingt wie ein Kommentar zur diesjährigen Sommerdebatte, stammt aber aus dem Jahr 1992. Kurz darauf wurde das Grundrecht auf Asyl demontiert, doch die Welle fremdenfeindlicher Gewalt ist nicht abgerissen. Es ist viel Zeit verstrichen, in der langfristig angelegte Programme hätten wirksam werden können.

Nach der Bundestagswahl 1998 wurde in Thüringen eine Kampagne gegen Fremdenfeindlichkeit, angestoßen durch den DVU-Wahlerfolg in Sachsen-Anhalt im gleichen Jahr, abgebrochen. Initiativen gegen den Rechtsextremismus wurde vorgeworfen, den Wirtschaftsstandort Thüringen zu gefährden. Und noch kurz vor der diesjährigen parlamentarischen Sommerpause haben es die Innenminister von Bund und Ländern abgelehnt, sich im Rahmen einer Sonderkonferenz mit dem Rechtsextremismus zu beschäftigen, während man dem Thema Kampfhunde diese Aufmerksamkeit zukommen ließ. Vor diesem Hintergrund ist es erstaunlich, dass kaum selbstkritische Eingeständnisse über Fehleinschätzungen des Rechtsextremismus zu hören sind. Jetzt dominiert ein hilfloser Aktivismus, der auf den organisierten Rand des Rechtsextremismus fixiert bleibt. Politiker, die noch vor einigen Wochen den Rechtsextremismus heruntergeredet haben, wetteifern nun um die repressivste Strategie.

Die aktuelle Thematisierung hat ihre Kehrseite in der Ausklammerung all jener Prozesse in der Mitte der Gesellschaft, die Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus erst gesellschaftsfähig gemacht haben. Der Rechtsextremismus wird an den Rand der Gesellschaft gelagert, um die gesellschaftspolitische Brisanz, die hinter dem Thema steht, zu entschärfen. Über die gesellschaftlichen Umbrüche, die den sozialen Zusammenhalt gefährden und damit nationalistische und fremdenfeindliche Verarbeitungsweisen nahe legen (nicht determinieren), braucht dann ebenso wenig gesprochen zu werden wie über den regierungsamtlichen Instrumentalismus gegenüber Ausländern. Die rechtsextremen Einstellungen in der Bevölkerung erscheinen als Werk der „Verführer“ (Manfred Stolpe) in Gestalt der NPD, die man mittels Verbot bekämpfen will. Der alltägliche Rassismus ist jedoch nicht das Resultat propagandistischer Bemühungen rechtsextremer Organisationen. Und an den skandalösen Lebensbedingungen von Flüchtlingen, hinter denen eine strukturelle Diskriminierungsbereitschaft steht, die auch von staatlichen Institutionen mit verantwortet wird, ist nicht die rechte Szene schuld.

Die staatliche Abschottungspolitik gegenüber Flüchtlingen oder die Vorenthaltung politischer Teilhabe bedürfen zu ihrer Begründung allerdings keiner rassistischen Konstruktion des Fremden. Ein Elitenmultikulturalismus, der die dumpfen rechten Schläger verachtet und deren „Rassismus von unten“ bekämpft, weil er die Weltoffenheit des Standorts und den Betriebsfrieden multinationaler Belegschaften gefährdet, bleibt zugleich gleichgültig gegenüber den realen diskriminierenden Lebensverhältnissen, die den Alltag vieler hier lebender Ausländer prägen. Diese Diskriminierung durch geringe Bildungschancen, schlechte Wohnverhältnisse und untergeordnete Stellungen in den Betriebshierarchien ist eingelassen in soziale Strukturen kumulativer Ungleichheit, die immer auch „ethnisiert“ sind. Die darin zum Ausdruck kommende Feindlichkeit der Verhältnisse wird nicht durch rechte Überzeugungstäter verursacht, sondern basiert auf der „farbenblinden“ Mitarbeit all jener, die, ohne Fremdenhass zu verspüren, lediglich funktionieren müssen.

Die neue Qualität des ostdeutschen Rechtsextremismus besteht vor allem in einem spezifischen politischen Interaktionszusammenhang, in dem hohe Gewaltbereitschaft, fremdenfeindliche Einstellungen in breiten Bevölkerungsschichten und „leere Institutionen“ (Wilhelm Heitmeyer) zusammenwirken. Im Ergebnis führt dies zu einer rechten Alltagskultur, in der die alltägliche Diskriminierung von Fremden und Anderen überhaupt nicht mehr als Problem wahrgenommen wird, sondern als normal und berechtigt gilt. Die sozialräumlichen Positionsgewinne der Rechten sind bereits so gravierend, dass zahlreiche Gegenden im Osten als No-go-Areas für Minderheiten eingeschätzt werden müssen. Mit anderen Worten: Grundprinzipien unserer Verfassung sind in Teilen Ostdeutschlands de facto außer Kraft gesetzt. Rechtsextreme Verhaltensweisen werden nicht denunziert, sondern sind selbstverständlicher Teil der Alltagskultur. Ostdeutsche Politiker, vor allem in den Kommunen, haben der fremdenfeindlichen Einstellung ihrer Bevölkerung immer wieder Zugeständnisse und politische Avancen gemacht; das Problem wurde überhaupt erst nach Überschreitung eines gewissen Gewaltpegels wahrgenommen.

Die Demokratie in den neuen Bundesländern existiert zwar als Rechts- und Verfassungssystem, nicht aber als lebendige politische Kultur. Institutionen und Organisationen sind „leer“, weil ihnen der Unterbau entsprechender sozialer und kultureller Traditionen fehlt. „Wenn solche Institutionen sich mit Leben füllen statt dahinwelken und schließlich verdorren sollen, dann ist Voraussetzung dafür, dass sie von ihrer jeweils spezifischen Basis her als sinnvolle und zweckmäßige Einrichtungen anerkannt werden. Sie müssen aufsitzen auf Traditionen, Routinen, Erwartungen, Erfahrungen und Qualifikationen, die mit der Einrichtung der Institutionen selbst nicht automatisch mit erzeugt werden.“[2]Während schon im Westen die Milieus erodieren, die Institutionen und Organisationen tragen, hängen diese nach ihrem Transfer in den Osten im luftleeren Raum. Beispiel Gewerkschaft: Aller Antifa-Rhetorik des hauptamtlichen Gewerkschaftsapparats zum Trotz bleibt der proletarische Rechtsextremismus von seinen Aktivitäten unbeeindruckt. Betriebsräte und gewerkschaftliche Vertrauensleute mögen vielleicht noch als betriebliche Dienstleistungsstruktur existieren, aber sie üben keine politisch erzieherischen Funktionen gegenüber ihrer Belegschaft aus. Beispiel Parteien: Der Parteienwettbewerb hat für viele Bürger den Anschein eines Spiels „Alle kandidieren, jeder gewinnt“ – mit der Folge einer wachsenden Ablehnung der Parteiendemokratie. Beispiel Jugendverbände: Sie repräsentieren vor allem die Beschäftigteninteressen an der Selbsterhaltung des Apparats. Wenn Jugendliche von Ferienfreizeiten einer im Westen als links geltenden Jugendorganisation als Fremdenfeinde zurückkommen, scheinen solche Organisationen keine großen demokratischen Stützen zu sein. Denn inhaltliche Bindungen von Hauptamtlichen spielen im „ABM-Karussell“ der ostdeutschen Jugendarbeit keine Rolle.

Vor diesem Hintergrund wird sich die Erfolgsgeschichte der alten Bundesrepublik – die Demokratisierung der postnazistischen Gesellschaft –, die sich gerade auch den genannten intermediären Organisationen und dem System gesellschaftlicher Selbstregulierung verdankt, nicht wiederholen lassen, auch wenn Teile der politischen Klasse dies nach wie vor glauben. Die Institutionen, die agieren müssten, agieren nicht und werden auch nicht durch inhaltslose Appelle funktionsfähig.

Wer sich heute die Bildungsmaterialien zum Rechtsextremismus aus den Achtzigerjahren ansieht, wird die Verschiebungen in der politischen Kultur feststellen können. Was damals in der Aufstiegsphase der „Republikaner“ noch als Beispiel für fremdenfeindliche Denkstrukturen galt, ist in die Mitte des politischen Systems gewandert. Die Abschottungslogik der Festung Europa wird nur noch von kleinen Basisinitiativen kritisiert, und diese Logik wird auch durch ein Einwanderungsgesetz – so notwendig diese Selbstanerkennung als Einwanderungsland auch ist – nicht gebrochen, solange darin ausschließlich ein Instrument zur deutschen Rentensicherung und zur Anwerbung hochqualifizierter Arbeitnehmer verstanden wird. Wer die Nützlichkeit zum ausschließlichen Kriterium erhebt, darf sich nicht wundern, wenn die „Überflüssigen“ des globalisierten Kapitalismus – und zu dieser Gruppe zählt ein Teil der ostdeutschen Erwerbsbevölkerung – nach eigenen Nützlichkeitskriterien agieren und die unnütze Konkurrenz im Wettbewerb um niedrig qualifizierte Jobs als fremde Feinde be- und angreifen. Multikulturelle Toleranzappelle aus dem Hotel Adlon werden dann als Anstandsregeln und Luxusattitüde aufgenommen, gegen die sich die anstößige rassistische Rebellion von unten wendet. Gerade im Osten ist das Gefühl stark verbreitet, von der ökonomischen Entwicklung auf Dauer abgehängt zu werden und zugleich politisch nicht beziehungsweise schlecht repräsentiert zu sein, so dass hier die Gefahr einer Ethnisierung der sozialen Frage besteht.

Der neue Zeitgeist, ein totalitärer Ökonomismus, der alles für gut hält, „wenn es sich rechnet“, und das, was sich nicht rechnet, wie zum Beispiel Armutsflüchtlinge, exkludiert, zehrt die demokratische Substanz und einen Begriff von Menschenwürde jenseits des Homo oeconomicus stillschweigend auf. Das sozialstaatliche Integrationsmodell der alten Bundesrepublik wird sukzessive verabschiedet. Auch die so genannten Modernisierungsgewinner sind mit der Widerrufbarkeit ihrer Lebensperspektiven und dem Verlust biografischer Sicherheiten konfrontiert. Ihre aggressive Identifikation mit den Siegertypen des globalisierten Kapitalismus wird sie in den „Überflüssigen“ der Modernisierungsprozesse nur noch eine Kostengruppe sehen lassen, die es zu reduzieren, nicht aber sozialstaatlich für ihr Scheitern zu belohnen gilt. In solchen sozialdarwinistischen Einstellungen liegen mögliche Zugänge zu rechtsextremen Positionen.

Rechtsextreme und fremdenfeindliche Einstellungen sind nicht das Werk von „Verführern“. Vielmehr handelt es sich um spezifische subjektive Verarbeitungsweisen gesellschaftlicher Umbrüche, die für die Individuen Rationalität besitzen, weil ihnen nationalisierende und ethnisierende Interpretationen Halt und Sicherheit bieten. Dabei ist die Debatte, ob die Ursachen von Fremdenfeindlichkeit in aktuellen Umbruchserfahrungen liegen oder als Relikte der autoritären und ethnisch homogenen DDR-Gesellschaft anzusehen sind, nachgerade absurd. Sozialisationsgeschichtlich gibt es keine Stunde null; und in subjektive Verarbeitungsprozesse aktueller Umbrüche gehen immer auch die langfristig wirksamen Traditionsbestände einer politischen Kultur, die eben nicht wie Staaten untergehen, ein.

Noch 1994 waren rechtsextreme Einstellungen im Westen stärker als im Osten verbreitet. Erst in der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre vollzieht sich eine Gewichtsverlagerung von West nach Ost, wenn man Einstellungspotenziale und Wahlverhalten betrachtet. „Die wichtigste Ursache für diese Gewichtsverlagerung dürfte in dem dramatischen Stimmungswandel gelegen haben, der sich nach der Bundestagswahl 1994 in Ostdeutschland vollzog“, meint der Berliner Rechtsextremismusforscher Richard Stöss. Die enttäuschten Hoffnungen auf sozialstaatliche Teilhabe schlugen um in Fremdenfeindlichkeit und den Wohlstandschauvinismus der Zukurzgekommenen. Im Unterschied zum Westen ist der ostdeutsche Rechtsextremismus vor allem unter Jugendlichen verankert. Dies zeigt, dass Analysen zu kurz greifen, die ausschließlich auf DDR-spezifische Ursachen verweisen. Die Entwicklung rechtsextremer Einstellungen bleibt eingebunden in aktuelle Erfahrungen und Stimmungen von politischer Unzufriedenheit.

Nach Untersuchungen von Richard Stöss haben wir auch in den neuen Bundesländern ein Potenzial von 17 Prozent mit einer rechtsextremen Einstellung. Über diesen Kern hinaus werden einzelne Einstellungsdimensionen – im Osten vor allem fremdenfeindliche und antidemokratische autoritäre Einstellungen – von weitaus größeren Kreisen unterstützt. Das ist der massenpsychologische Hintergrund des Avantgardebewusstseins rechter Täter. Hinzu kommt das Fehlen von Öffentlichkeit. In der dörflich-kleinstädtischen DDR wurde ein engstirniger Provinzialismus konserviert, der bis heute fortwirkt. In Verbindung mit der autoritären Tradition des Anpassungsregimes DDR entsteht hier eine Atmosphäre, die immer auch rigorose Normdurchsetzung und die Abwehr von Unbekanntem begünstigt. Während die jungrechten Akteure aus der vertrauten Nachbarschaft kommen, erscheint nun mit dem Fremden die als Bedrohung wahrgenommene personifizierte Globalisierung vor Ort, die es gemeinsam abzuwehren gilt.

Die Zurückdrängung solcher Einstellungsstrukturen, die erst ein Klima für rechte Gewalttäter schaffen, erfordert langfristig wirksame Projekte – das heißt: Geld, Personal, Strukturveränderungen und nicht billigen Talkshow-Populismus.

Nicht jeder, der rechtsextrem denkt, handelt auch rechts. Die meisten Rechtsextremen wählen demokratische Parteien und unterstützen bei Wahlen gern autoritäre Macher wie Gerhard Schröder, eruierte der Wahlforscher Jürgen Falter. Aber sie bestimmen in vielen Familien, Stammtischen, Vereinen das fremdenfeindliche Klima mit. Das bedeutsame rechte Potenzial ist eben nicht so auffällig, wie es die mediale Inszenierung hässlicher Glatzen suggerieren will.

Diese Einstellungen zurückzudrängen ist eine politische und auch eine pädagogische Aufgabe. Als erster Schritt muss die Schwelle zwischen rechtsextremer Einstellung und rechtsextremem Verhalten erhöht werden. Hier gilt als oberster Grundsatz: Rechtsextremen und fremdenfeindlichen Einstellungen muss deutlich widersprochen werden. Die Politik darf keine Signale senden, die das rechtsextreme Milieu als Ermutigung und Bestätigung empfinden kann. Denn pädagogisches Handeln bewegt sich immer im strukturierten Feld, das durch objektive gesellschaftliche Verhältnisse und politische Vorgaben geprägt ist. Pädagogik kann keine Umbruchserfahrungen außer Kraft setzen. Pädagogische Programme bewirken langfristig viel, aber sie können nicht ausgleichen und korrigieren, was Medien und Regierende von oben als Haltung stilbildend durchsetzen.

Bei dem Text handelt es sich um die gekürzte Fassung eines Beitrags, der am 18. Oktober im „Journal der Jugendkulturen Nr. 3“ erscheint. Das Journal wird herausgegeben vom Archiv der Jugendkulturen, Fidicinstr. 3, 10965 Berlin. (HYPERLINK http://www.jugendkulturen.de ).

Anmerkungen:1 Thomas von Freyberg: Anmerkungen zuraktuellen Welle von Fremdenhass. In: Institutfür Sozialforschung (Hg.): „Aspekte der Fremdenfeindlichkeit. Beiträge zur aktuellen Diskussion“. Frankfurt/New York 1992, S. 71 ff.,hier S. 72 f.2 Claus Offe: Die deutsche Vereinigung als „natürliches Experiment“. In: Bernd Giesen/Claus Leggewie (Hg.): „Experiment Vereinigung. Ein sozialer Großversuch“. Berlin 1991,S. 77 ff., hier S. 79