: Versteckspiel in aller Öffentlichkeit
Jules T. lebt seit vielen Jahren ohne gültige Papiere in Deutschland. Er engagiert sich in der Jugendarbeit und als Fußballtrainer. Weil er den Rassismus bürokratischer Vorschriften spürte, hat er sich gekränkt über die Spielregeln der deutschen Gesellschaft hinweggesetzt. Ein Porträtvon VERONIKA KABIS-ALAMBA
„Der Pass ist der edelste Teil von einem Menschen. Er kommt auch nicht auf so einfache Weise zustand wie ein Mensch. Ein Mensch kann überall zustand kommen, auf die leichtsinnigste Art und ohne gescheiten Grund, aber der Pass niemals. Dafür wird er auch anerkannt, wenn er gut ist, während ein Mensch noch so gut sein kann und doch nicht anerkannt wird.“ Bertolt Brecht, Flüchtlingsgespräche
Illegal – ein böses Wort für einen Menschen. Ihm haftet der Ruch des Outlaws, des verschlagenen Eindringlings an. Kein Mensch ist illegal. Er mag keine gültigen Papiere haben, also ein „sans papiers“ sein, ein Mensch, der Teil hat am Leben der anderen und doch wie ein Phantom ist: weil nicht sein kann, was nicht sein darf.
Ein wenig gewundert hatten sich Jules T.s engste Freunde schon, dass er nach so vielen Jahren noch immer keine Aufenthaltsgenehmigung als Student bekommen haben sollte; an die Uni ging er schon lange nicht mehr, und die Ausländerbehörde nahm es doch sonst so genau. Aber was Jules ihnen vor wenigen Wochen eröffnete, hatte keiner erwartet: Seit vierzehn Jahren lebt er ohne gültige Papiere in Frankfurt.
Ich kenne Jules schon lange und muss nun, da er mir aus seinem Leben erzählt, feststellen, wie wenig ich von ihm weiß. Mit vierzehn beginnt er, Deutsch zu lernen. Der begabte Junge besucht eine Eliteschule in der senegalesischen Hauptstadt Dakar. Noch vor dem Abitur hat er 1977 erstmals Gelegenheit, als Preisträger des pädagogischen Austauschdienstes einige Monate nach Deutschland zu reisen. Spätestens da steht für ihn fest, dass er Germanistik studieren wird. Er ist begeistert von den deutschen Klassikern, Goethe und sein „Werther“ haben es ihm besonders angetan. Doch für geistige Höhenflüge an der Uni von Dakar bleibt wenig Zeit. Ende der Siebzigerjahre herrscht in Senegal die UPS-Einheitspartei, vier Jahre lang geht Jules in den Untergrund, wird Mitglied einer maoistischen Organisation.
Der junge Intellektuelle kämpft auf seine Art, inszeniert Bauerntheater in Dörfern, Städten, an der Universität. In der Organisation mit ihrer rigiden Struktur eckt er jedoch zunehmend an; er will nicht zu allem ja sagen, lehnt Gewalt ab und weigert sich, Menschen um seiner Ideale willen in den Tod zu schicken. So ergreift er denn die Gelegenheit, nach der Diplomprüfung mit einem Stipendium in der Tasche wieder nach Deutschland zu gehen. Er setzt sich mit den Internationalismus-Diskussionen der Achtzigerjahre auseinander, beschäftigt sich mit dem Nord-Süd-Verhältnis, arbeitet an seiner Magisterarbeit zur Senegal-Berichterstattung in deutschen Medien.
Jules ist ein eigenwilliger Mensch, kritisch gegen sich und seine Umgebung. Bei einem Besuch in Dakar kommt es schließlich zum Bruch mit seinem Professor, sein Stipendium wird gestrichen. Er kehrt dennoch nach Deutschland zurück. Als er seine Aufenthaltserlaubnis verlängern lassen will, fordert die Ausländerbehörde ihn auf, einen Gesundheitstest zu machen. Ein umstrittenes, aber für afrikanische Studenten inzwischen übliches Verfahren. Jules ist empört über dieses Ansinnen. Und er setzt nie wieder einen Fuß in die Ausländerbehörde.
Vierzehn Jahre sind seither vergangen. Wie konnte er alles aufs Spiel setzen wegen ein wenig gekränkten Stolzes? Jeden anderen hätte ich für verrückt erklärt. Jules nehme ich seine Geschichte ab. Der empfindsame, hochintelligente Senegalese hat sich dieses eine Mal über die strengen Spielregeln der deutschen Gesellschaft hinweggesetzt – weil er gekränkt war, weil er den Rassismus in den Vorschriften gespürt hat, weil er mit ihnen nichts anfangen konnte. Er ist keiner, der vorsätzlich Gesetze bricht; er hat sie hinterfragt und befunden, dass sie ungerecht sind. Ganz einfach. Und seither lebt er ohne das Ausländergesetz. Es war eine Entscheidung mit Folgen. An eine akademische Karriere war nicht mehr zu denken, der Alltag musste so gestaltet werden, dass keiner etwas merkte. Möglichst keine Behördenkontakte, keine Begegnungen mit der Polizei, keine Reisen mehr innerhalb Europas. Nach und nach hat Jules dann eine Betätigung gefunden, die ihm, wie er sagt, ein mindestens gleichwertiger Ersatz für die Unilaufbahn ist.
Seit Jahren arbeitet er mit Kindern, ist Fußballtrainer und Jugendbetreuer in einem multikulturellen Jugendzentrum in Frankfurt. Besonders die jugendlichen Flüchtlinge liegen ihm am Herzen. Jeden Tag ist er da, der Laden würde ohne ihn zusammenbrechen. Die ganze Arbeit macht er gegen eine geringe Aufwandsentschädigung – in Deutschland ist er zum Hungerkünstler geworden. Seit einiger Zeit unterrichtet er auch Deutsch, ist äußerst beliebt bei seinen SchülerInnen. Da reizt ihn wieder die intellektuelle Herausforderung, das Unterrichten ist wie ein back to the roots.
Er ist ein Meister der deutschen Sprache, mit der Sprache der Philosophen geht er um wie mit einem geliebten Spielzeug. Kein Schüler fällt bei ihm durch die Maschen; wenn einer nicht lesen und schreiben kann, wird er eben zunächst alphabetisiert. Dass er mit seinen Schülern notfalls auch Türkisch und Spanisch sprechen kann, daran haben sie sich gewöhnt, neuerdings lernt er Chinesisch.
Was es für ihn bedeuten würde, nach Senegal zurückzukehren, möchte ich von ihm wissen. Er hat diese Option ausgeblendet, merke ich schnell. Es fällt ihm schwer, überhaupt darüber nachzudenken. Auf seiner letzten Reise vor vielen Jahren hat er die Medina, das Elendsviertel von Dakar, besucht. Die Not und Perspektivlosigkeit der Bewohner habe er nicht ertragen können. Aber in Deutschland arbeite er doch auch mit Menschen, die ganz unten stünden, wende ich ein. Das sei schon richtig, antwortet er, aber hier könne soziale Arbeit greifen, in Senegal habe Jugendarbeit keine wirkliche Chance. Außerdem fühle er sich den „afrikanischen Verhältnissen“ von Korruption und Scheindemokratie einfach nicht mehr gewachsen.
„Und was machst du, wenn du krank bist?“, frage ich ihn, denn natürlich hat Jules schon lange keinen Krankenschutz mehr. „Ich werde nicht krank“, antwortet er mit einer wegwerfenden Geste, als könne kein Virus ihm etwas anhaben. Überhaupt bemüht er sich nach seinem „Coming-out“, seinen Freunden gegenüber gelassen zu wirken. Fast so, als gehe ihn das alles nichts an. Die Freunde ihrerseits sind aus dem Häuschen, überlegen sich tausend Möglichkeiten, wie sie ihm helfen können. Die Ausreise organisieren, die Wiedereinreise beantragen – aber wie? Als Student hat er keine Chance mehr, die Green Card gibt es nur für IT-Spezialisten, heiraten – aber wen? Zurzeit hat er keine feste Freundin. Je ausgefallener die Ideen werden, desto mehr igelt sich Jules ein. Irgendwie hat er sich eingerichtet, bislang ging es doch auch gut.
Dennoch hat sich etwas geändert. Es ist keine Einbildung, dass da mehr Polizeipräsenz in der Öffentlichkeit ist. Die neuen „verdachtsunabhängigen Kontrollen“ könnten ihm zum Verhängnis werden; je dunkler die Hautfarbe, desto größer das Risiko, von Uniformträgern gefilzt zu werden. Seit er gehört hat, dass der Bundesgrenzschutz zunehmend in Zügen nach illegalen Zuwanderern sucht, fährt er nicht mehr Bahn. Seit er einmal um Haaresbreite in der Straßenbahn kontrolliert worden wäre, geht er zu Fuß. Seine Bewegungsfreiheit nimmt von Tag zu Tag ab, das Netz zieht sich langsam zu. Und die Angst beginnt an ihm zu nagen. „Was sollen die Jugendlichen ohne mich machen? Sie brauchen mich doch.“ Man möchte ihn schütteln ob so viel Gutmenschentums. Kann dieser Mann nicht auch an sich denken?
Einmal hat er mit dem Gedanken gespielt, an den Innenminister zu schreiben. Er hält an seinem Glauben fest, dass die Deutschen über „intellektuellen Anstand“ verfügen. Wenn er die Karten offen auf den Tisch legte, darauf hinweise, dass er niemandem zur Last falle, im Gegenteil eine wichtige soziale Arbeit leiste – vielleicht könnte eine humanitäre Lösung gefunden werden. Er hat die Idee wieder verworfen. Zu viele Menschen in seiner Umgebung sind in den letzten Jahren abgeschoben worden, nie hat es menschliche Entscheidungen gegeben. Das Ausländerrecht ist kein Gnadenrecht, hat neulich jemand gesagt.
Jules macht niemandem Vorwürfe, eigentlich hat er sich ja selbst in diese missliche Lage manövriert. Aber er weiß, dass er einen gefährlichen Spagat zwischen Versteckspiel und einem Leben in aller Öffentlichkeit übt. Grüne Uniformen meidet er wie der Teufel das Weihwasser, zugleich erscheinen sein Name und sein Bild öfter in der örtlichen Presse – wegen seiner Erfolge als Fußballtrainer, seines Engagements in der Jugendarbeit.
Hinweise:Er glaubt an den „intellektuellen Anstand“ der DeutschenSeine Bewegungsfreiheit nimmt ab, das Netz zieht sich langsam zu
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