piwik no script img

Die Sprachfalle

Serie Bildung und Migration (Teil 2): Für nichtdeutsche Kinder wird mangelnde Schulbildung immer mehr zum Verhängnis. Wo liegen die Ursachen, was kann getan werden? Eine Bestandaufnahme

von SANEM KLEFF

Unter der Überschrift „Gemeinsam leben in Berlin: die Integrationsbemühungen verstärken und eine Bildungsoffensive für Kinder, Jugendliche und Erwachsene nichtdeutscher Herkunftssprache starten“ hat Bildungssenator Klaus Böger (SPD) in seiner Rede auf dem Kongress des Forum Bildung im Juni eine Reihe von Absichtserklärungen formuliert. So sei das gemeinsame Leben von Menschen deutscher und nichtdeutscher Herkunftssprache „eine der wichtigsten Zukunftsaufgaben“ der Stadt.

Dem kann man nur zustimmen und sich darüber freuen, dass die Senatsschulverwaltung – wenn auch mit einigen Jahrzehnten Verspätung – erkannt hat, dass die Bildungssituation von Kindern und Jugendlichen nichtdeutscher Erstsprache nicht länger als ein lästiges Anhängsel der „eigentlichen“ Schulpolitik missverstanden werden darf.

Kein lästiges Anhängsel der Schulpolitik

Deutlich spricht es der Senator aus: „Die bisherige Misserfolgsquote (der MigrantInnen) in der Berliner Schule ist immer noch zu hoch.“ Bei einem Anteil von 30 Prozent Schulabgängern ohne jeglichen Abschluss ist kein anderer Schluss möglich. Wenn sich an der bisherigen Beschulung nichts ändert, wird also jedes dritte der 75.000 Kinder nichtdeutscher Herkunftssprache, die momentan die Berliner Schulen besuchen, künftig einen erheblichen Anteil der unqualifizierten und daher in der Regel auch arbeitslosen Bevölkerung stellen. So ist es nur konsequent, wenn Böger eine Bildungsoffensive für Kinder nichtdeutscher Erstsprache ankündigt, wie sie bereits seit Jahren, nicht nur von der GEW, gefordert wird.

Ein Blick auf die Ausstattung des laufenden Schuljahres ist allerdings ernüchternd. Die wesentlichen Rahmenbedingungen sind gleich geblieben, von einer Verstärkung der Ressourcen für die Beschulung Kinder nichtdeutscher Erstsprache ist nichts zu bemerken.

Eine beliebte Ausrede für die mangelnde Bereitschaft, die finanzielle Ausstattung der Schulen zu verbessern, ist der Hinweis, dass ein Mehr an Lehrerstunden alleine noch keine effektivere, sinnvollere Beschulung bewirken könne. Das stimmt ohne Zweifel. Immerhin gehört dazu mehr als nur die Aufstockung von Lehrerstunden. Doch ohne ausreichende Zeit, die Kinder nichtdeutscher Erstsprache brauchen, um sich im deutschsprachigen Schulalltag zu behaupten, geht es nicht. Und Zeit in der Schule kostet Geld.

Mehr Zeit für das einzelne Kind erhält man zum Beispiel durch kleinere Klassen, in denen die SchülerInnen die Möglichkeit haben, öfter als nur einmal am Tag zu Wort zu kommen, und somit ihre Kenntnise in Deutsch als Zweitsprache ausbauen können. Mehr Zeit für das einzelne Kind gibt es auch, wenn die zu großen Klassen wenigstens zeitweilig in zwei Gruppen aufgeteilt werden, wenn neben dem Regelunterricht Förderunterricht erteilt wird oder zwei LehrerInnen gleichzeitig in einer Klasse unterrichten.

Das Erlernen der Zweitsprache kann nicht nach einem mechanischen Ablauf organisiert werden, da hier die Lernmotivation der SchülerInnen eine noch größere Rolle spielt als bei anderen Lernprozessen. Die Vermittlung von Deutsch als Zweitsprache kann deshalb nicht in einem luftleeren Raum stattfinden. Die SchülerInnen müssen sich in der deutschsprachigen Schule als gleichberechtigte SchülerInnen angenommen fühlen, müssen spüren, dass sie gewollt und nicht nur geduldet werden.

Dazu gehört auch, dass ihre Erstsprache angenommen und nicht weggedrückt oder gar verboten wird. „Die gelebte Zweisprachigkeit ist ein individueller und gesellschaftlicher Reichtum“, betont der Schulsenator. Doch die Angebote zweisprachiger Erziehung werden immer weiter auf die staatlichen Europaschulen beschränkt.

Interkulturelles Lernen muss aufgebaut werden

Ob sich die SchülerInnen an ihrer Schule angenommen fühlen, hängt von der Gesamtatmosphäre ab, und diese ist nur dann positiv geprägt, wenn alle SchülerInnen und Erwachsenen die Kompetenz zur interkulturellen Kommunikation entwickeln. Dies geschieht nicht automatisch, wenn genügend SchülerInnen und LehrerInnen unterschiedlicher Herkünfte, Traditionen, Erstsprachen und Religionen unter einem Schuldach vereint sind. Das Gegenteil kann sogar der Fall sein: Am Ende zieht sich jeder in seine Eigengruppe zurück. Eine bunte Mischung innerhalb der Lehrerschaft kann die interkulturelle Kompetenz erleichtern, sie muss aber gezielt und mühsam aufgebaut werden. Sie kann nicht neben dem „normalen“ Unterricht, der weiterhin monokulturell geprägt bleibt, erlernt werden. Interkulturelles Lernen muss endlich zu einem verbindlichen Bestandteil der Lehrpläne werden! Hierfür benötigen alle Beteiligten Zeit. Und Zeit an der Schule kostet Geld. Es ist notwendig nachzuschauen, ob der Senator seinen Worten auch Taten folgen lässt.

Immer wieder wird vorwurfsvoll beklagt, dass die Deutschkenntnisse zu vieler Kinder nichtdeutscher Erstsprache zum Zeitpunkt ihrer Einschulung nicht ausreichten, um dem deutschsprachigen Regelunterricht folgen zu können. Das stimmt. Aber was sind die Ursachen und vor allem: Wie kann sich daran etwas ändern?

Die CDU machte sich lange Jahre Gedanken, wie dieser Missstand durch repressive Maßnahmen – zum Beispiel einer Zuzugssperre für MigrantInnen in die „von Ausländern belasteten“ Bezirke – behoben werden könne. Diese Idee wurde fallen gelassen, weil sich einige noch erinnern konnten, wie es im Berlin der 70er- und 80er-Jahre aussah, als es eine solche Zuzugssperre gab. Lange Jahre gab es auch eine „Ausländerquote“ für die einzelnen Klassen. Nur 30 Prozent der SchülerInnen durften Kinder ohne deutschen Pass sein, in Ausnahmefällen waren 50 Prozent erlaubt. Das war in den 70ern und 80ern, als die Eltern der heutigen GrundschulschülerInnen nichtdeutscher Herkunftssprache in Berlin die Schulbank drückten. Die Ergebnisse dieses kleinen Apartheidmodells sind bekannt: Fast 35 Prozent dieser SchülerInnen haben keinen Schulabschluss. Das Modell wurde letztlich durch Entwicklungen in der Realität ad absurdum geführt: Zum einen gab es durch die verstärkte Einbürgerung immer weniger ausländische Kinder, zum anderen kamen mit den AussiedlerInnen SchülerInnen, die zwar Deutsche waren, aber kein Deutsch sprachen. Die Idee wurde fallen gelassen.

Ein anderer Lösungsansatz wurde in den letzten Jahren immer populärer: Die Eltern und die nicht deutschsprachigen, besonders die türkischsprachigen Medien wurden dafür verantwortlich gemacht, dass die Kinder nicht die gewünschten Deutschkenntnisse mit in die Schule brächten. Dieser Schuldzuweisung an die Eltern stimmten neben der CDU auch Vertreter anderer Parteien und Verbände zu, die Schuldigen waren ausgemacht. Vorschläge, der Zuzug von Ehepartnern aus den Herkunftsländern müsse erstens erschwert und mit der Auflage verbunden werden, dass die Zuziehenden ausreichende Deutschkenntnisse vorweisen können, erfreuten sich großer Beliebtheit. An dem Argument, die MigrantInnen förderten die sprachliche und kulturelle Entwicklung ihrer Kinder nicht ausreichend, ist sicherlich etwas dran. Was sind aber die Ursachen?

Am wenigsten erfolgreich sind Kinder aus Familien, die aus der Türkei eingewandert sind. Sie sind die Nachkommen der bis in die 70er-Jahre von der Industrie angeworbenen „Gastarbeiter“. Ihre Sozialstruktur ist bekannt: Es kamen vor allem Menschen aus den ärmeren, ländlichen Regionen und bildungsfernen Traditionen, die oft nicht lesen und schreiben konnten. Um das Bildungsniveau der ersten Generation haben sich damals weder die Bundesregierung noch der Senat oder die Industrie Gedanken gemacht.

Ihre Kinder, die zweite Generation, konfrontierten die Schule mit einer bäuerlichen Kultur, wie sie in Berlin nur noch in Spuren vorkam. Für die damals jungen LehrerInnen aus der so genannten 68er-Generation war es eine Herausforderung, mit einem bislang unbekannten Typus von SchülerInnen sinnvollen Unterricht zu machen. In ihrer Ausbildung hatten sie das nicht gelernt, auch später bekamen sie kaum Unterstützung.

Heute sind die Enkel und Urenkel an der Schule. Sie sprechen nicht nur unzureichend Deutsch, sondern oft auch kaum noch Türkisch, Kurdisch oder Arabisch. Aufgrund ihrer miserablen schulischen Qualifikationen haben es die Eltern kaum geschafft, eine berufliche Ausbildung zu machen, und sind deshalb überproportional von Arbeitslosigkeit betroffen. Die Selbstständigkeit als Gemüsehändler mit einem Familienbetrieb ist für sie eine der wenigen Möglichkeiten, nicht ganz ins soziale Aus zu rutschen. Zu viele ziehen sich mittlerweile in die eigene Community zurück, werden anfällig für islamistische und nationalistische Töne.

Erfreulicherweise gibt es seit zwei Jahren ein Rundschreiben, in dem festgelegt ist, dass der Vermittlung von Deutsch als Zweitsprache besondere Aufmerksamkeit zukommt. Förderstunden dürfen demnach nicht beliebig als Vertretungsstunden verwendet werden. Was soll aber eine Schulleiterin machen, wenn es nicht ausreichend Lehrerstunden gibt und der Mathematikunterricht laufend vertreten werden muss? Sie greift auf die Teilungsstunden zurück. Ahmet und Leyla können sehen, wie sie Deutsch lernen.

Fortbildung für nur 23 Lehrer pro Schuljahr

Für die sprachliche Förderung von Kindern nichtdeutscher Erstsprache waren bislang jährlich Stunden im Umfang von 762 Lehrerstellen vorgesehen. Im laufenden Schuljahr müssen die LehrerInnen eine Stunde mehr pro Woche unterrichten. Das bedeutet, dass zu den vorhandenen Lehrerstellen noch 762 Stunden hinzukämen, wenn dieser Anteil nicht aus dem Pool herausgerechnet worden wäre. So verfügen die Schulen zwar über zusätzliche Lehrerstunden, sie kommen aber nicht den Migrantenkindern zugute.

Das Rundschreiben gibt auch eine Aufnahmequote für Regelklassen vor: Nicht mehr als 25 Prozent Kinder nichtdeutscher Erstsprache, die unzureichend Deutsch sprechen, sollen in eine Klasse sein. Die anderen sind in gesonderten Förderklassen mit nicht mehr als 15 SchülerInnen intensiv zu unterstützen. Dieser Ansatz basiert auf dem Prinzip der getrennten Beschulung nach pädagogischen Kriterien. Die wenigsten Schulen nutzen jedoch diese Möglichkeit, weil sie nicht wissen, woher sie die Lehrer nehmen und wie sie die Kinder anschließend auf die vollen Regelklassen verteilen sollen.

Erstmalig wird derzeit Deutsch als Zweitsprache im Rahmen des Referendariats verpflichtend angeboten. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung: So werden wenigstens die LehrerInnen von morgen auf die Schulwirklichkeit besser vorbereitet. Doch das Angebot beschränkt sich auf so wenige Stunden, dass das Thema allenfalls gestreift werden kann.

Weiterbildung für LehrerInnen ist in diesem Bereich dringend notwendig. Bei der jetzigen Ausstattung der Weiterbildung können allerdings nur 23 LehrerInnen pro Schuljahr ein entsprechendes Angebot wahrnehmen. Bei mehr als 33.000 LehrerInnen wird eine umfassende Fortbildung also mehrere Jahrzehnte dauern.

Die Verbesserung der schulischen Qualifikation der MigrantInnen ist nicht durch ein Patentrezept in kurzer Zeit zu bewerkstelligen. Dafür gab es in der Vergangenheit zu viele Versäumnisse. Es werden künftig sogar mehr Kinder mit mangelhaften Deutschkenntnissen und einer von der Mehrheitsgesellschaft abweichenden Kultur und Tradition eingeschult werden. Wenn es nicht gelingt, der jetzigen Generation eines der wichtigsten Instrumente für ihre Partizipation am Arbeitsmarkt, der Kultur und der politischen Mitbestimmung, die deutsche Sprache zu vermitteln, wird Berlin in wenigen Jahren vor komplexen sozialen und politischen Problemen stehen. Diese werden nicht mehr mit zusätzlichen Förderstunden zu lösen sein. Herr Böger, wo bleibt die von Ihnen angekündigte Bildungsoffensive für SchülerInnen nichtdeutscher Erstsprache?

Sanem Kleff (45) ist stellvertretende Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft. Sie arbeitet in der Lehrerfortbildung zum Thema Kinder nichtdeutscher Herkunftssprache.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen