: Radio ist ein warmes Medium
Eine Woche lang kämpfen beim 52. Prix Italia in Bologne außergewöhnliche und bemerkenswerte Radiostücke um Preise. Dabei zeigte sich, dass auch in der fernsehdominierten Welt das Kulturradio noch lange nicht abgeschaltet gehört
von CHRISTIAN DEUTSCHMANN
Was ist Radio? Bildersüchtig, wie man in Italien so ist, setzt einen auch diese Frage dort nicht in Verlegenheit. So flimmerten bei der Opening Ceremony des 52. Prix Italia und am Tag darauf, dem „Radio Day“, einige Kofferradios von anno dunnemals über den supergroßen Bildschirm hinter den Rednern, und eine spärlich bekleidete Blondine räkelte sich daneben. Und bei der Final Show im atemberaubenden Bologneser Barocktheater klang es fast überzeugend, als eine Fernsehansagerin davon schwärmte, dass man sich das Leben überhaupt nicht mehr ohne Radio vorstellen könne.
Die gebeutelten Radioleute auf dem Festival müssen das freudig vernommen haben. Auch dass die beiden Starredner des Begleitprogramms, der Komponist Luciano Berio und der Kulturwissenschaftler und Autor Umberto Eco, diesem Medium ihre Reverenz erwiesen: Von einem „warmen“ Medium sprach Eco. Doch bei näherer Betrachtung stellte sich heraus, dass jenes Radio mit seinen großen Stimmen und Klängen eben doch ein Relikt aus alten Zeiten ist.
Bei dem immer noch renommierten Prix Italia regiert eine Erfindung unserer Tage: das Kulturradio, so wie es die öffentlichen Anstalten quer über den Globus präsentieren, wenn es sie denn überhaupt noch gibt. Über seinen heutigen Wert zu streiten wäre ein Sakrileg. Eher sollte man über die Auffassung von Kultur nachdenken. Ist es ein literarisches Hörspiel der geschliffenen Dialoge, wie es diesmal die Schweiz oder Österreich präsentierten, dokumentarische Aufarbeitung des Balkankrieges, der Nazigreuel, sind es satirische Übungen über das Gebaren Zivilisationsgeschädigter, wie sie aus dem etwas angestrengten Stück des Gewinners, „Stake out“, aus Dänemark sprachen?
Oder darf es auch mal etwas ganz anderes sein wie etwa die hemmungslos überdrehte und herrlich schrille irische „Pirate Radio Show“, in der ein paar Ausgeflippte einen Radiosender überfallen und dabei in bester Monty-Python-Manier ihre Ulknudeltalente entfalten.
Natürlich blieb sie chancenlos. Immerhin in die engere Wahl, dann aber doch nur zu einer „besonderen Erwähnung“ kam mit „Morbus gravissimus“ eine Folge des medienkritischen Magazins „Golem“, das die italienische RAI seit sieben Jahren produziert, eine Monstershow jener Abartigkeiten, mit denen uns Radio und Fernsehen täglich überfallen: vom Schrei eines weiblichen Babys in Nordafrika bei der vaginalen Beschneidung bis zu den Stimmen von Kindern, die per Videogame gerade einen Frosch in einen laufenden Mixer werfen. Von zwei Kommentatoren in intelligente Distanz gebracht, ist dies ein Programm, das unbedingt ins Kulturradio gehört, und warum nicht auch ins deutsche, das bekanntlich von Provozierendem nicht gerade überquillt?
Wie weit sich auch beim Prix Italia wieder eine Jury von den Risiken streitbarer Entscheidungen entfernte, zeigte die große Anzahl hervorragender, aber leer ausgegangener Beiträge: „Vinyl Coda“ etwa vom Bayerischen Rundfunk, eine wunderbar melancholische Liebeserklärung des Engländers Philip Jeck an das Kratzen und Rauschen alter Schallplatten. Auch jener hochmusikalischen Soundcollage über die begrabenen Utopien der soeben vergangenen Ära, wie sie Australien mit „The twentieth century and the dreams“ präsentierte, hätte man wenigstens eine Erwähnung gewünscht, ebenso wie dem BBC-Stück „A love song to the buses“, das einen an Autismus leidenden jungen Mann in den Mittelpunkt eines Wort- und Stimmenmusicals stellt, nur das Pech hatte, in die Sparte „Feature“ zu geraten und dort gleichsam als deplatziert verworfen zu werden.
Immerhin: Die vielen mit Klanggespür und thematischer Fantasie gebauten Beiträge, die hier sieben Tage lang in den großzügigen Räumen eines ehemaligen Marstalls zu hören waren, sie zeigen, dass das Radio längst noch nicht tot ist und dass es an allen Ecken der Welt unüberhörbar Klangtüftler gibt, die seine Fahne hochhalten. Nun müsste man nur noch die Direktoren unserer Kulturprogramme davon in Kenntnis setzen.
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