: Leben im Grenzland
Immer mehr Menschen sind „Borderliner“. Nicht allen von ihnen ist klar, dass sie psychisch krank sind, denn manche scheinen gnadenlos erfolgreich zu sein ■ Von Sandra Wilsdorf
Adolf Hitler war wohl einer und Slobodan Milosevic dürfte einer sein: Borderliner sind aber auch ein Drittel aller männlichen Häftlinge, ein Drittel aller Essgestörten und ein Drittel aller Drogenabhängigen, weiß Birger Dulz. Er ist Oberarzt der vierten Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie im Klinikum Nord/Ochsenzoll, und er ist einer der wenigen Spezialisten, die sich seit vielen Jahren in Klinik und Forschung mit Borderlinern beschäftigen.
Diese Menschen befinden sich im „Grenzland“ – ursprünglich hieß die Krankheit „Borderland“ – zwischen Neurose und Psychose. Bei allen drei Krankheiten sind die Persönlichkeiten gestört. Bei der Neurose allerdings ist die Ich-Struktur relativ stabil, bei der Psychose, wie beispielsweise der die Persönlichkeit spaltenden Schizophrenie, ist die Ich-Struktur völlig unabgegrenzt. Der Borderliner liegt dazwischen. Er weiß, wer er ist, leidet aber unter einer tiefgreifenden Störung und entwickelt unterschiedlichste Symptome.
Im Haus 21 des Klinikums Nord werden ausschließlich Borderliner behandelt. Viele von ihnen kamen von sich aus, die meisten nach etlichen erfolglosen Therapien. Viele haben irgendwann selber gemerkt, dass sie Borderliner sind. „Die sind meistens seht gut informiert“, sagt Dulz. Die „Grenzgänger“ sind schwer zu diagnostizieren, denn ihre Symptome wechseln. Manche von ihnen sind massiv suizidgefährdet, andere drogenabhängig oder essgestört, wieder andere verletzen sich selbst, und manche vereinigen all diese Merkmale auf sich. Es gibt aber auch Borderliner, die erfolgreiche Unternehmer, Politiker, Künstler, Wissenschaftler, Journalisten oder Sportler sind. Häufig sind es exzentrische und extrem leicht kränkbare Persönlichkeiten, die mit Idealisierung und Entwertung arbeiten, die polarisieren, ein extremes Leben führen oder sich aber, sich selbst aufopfernd, um leidende Menschen und Tiere kümmern. Sie scheinen also Menschen zu sein, die etwas aus ihrem Leben gemacht haben. Wenn aber ein winziges Teilchen des sorgfältig aufgebauten Gerüsts abhanden kommt, bricht alles zusammen. „Wenn die Frau sie verlässt oder sie den Job verlieren, werden sie beispielsweise suizidal“, sagt Dulz.
Der zentrale Faktor bei Borderlinern sei das Schwanken zwischen den Extremen: Sie fänden sich etwa nur richtig klasse oder nur richtig schlecht. Und das kann rasch, sogar innerhalb von Minuten wechseln. „Borderliner führen intensive, aber instabile Beziehungen. Sie teilen die Welt in Gut und Böse ein.“ Die Welt ohne Grautöne schafft Ordnung, und Ordnung nimmt Angst. Denn das ist das eigentlich bestimmende Gefühl der Borderliner: Eine allgemeine, aber ständig anwesende Furcht. „Einige kanalisieren sie durch S-Bahnsurfen, andere werden Neonazis“, sagt Dulz.
Angst aber gibt ein Borderliner nicht unbedingt zu, ist sich ihrer oft nicht einmal bewusst. Er behauptet dann, im besten Glauben, sich vor Nichts und Niemandem zu fürchten. Diese verleugnete und dennoch lebensbestimmende Furcht stammt meistens aus einer Traumatisierung. Viele Borderliner wurden als Kinder vernachlässigt, missbraucht, misshandelt. „Es kann auch an häufigen Krankenhausaufenthalten liegen, wobei als Störungsursache letztlich das subjektive Gefühl, vernachlässigt worden zu sein, eine Rolle spielt.“
Dulz bringt den Teufelskreis auf eine Formel: „Wer missbraucht wird, reagiert eher autoaggressiv, wer misshandelt wird, eher fremdaggressiv.“ Das sei bei beiden Geschlechtern gleich. Weil aber Mädchen eher missbraucht werden, entwickeln sie häufiger Esstörungen oder verletzen sich selbst und landen eher in der Psychiatrie. Jungs werden häufiger misshandelt, werden als Erwachsene gewalttätig und kommen in den Knast. Dort wird ihre Krankheit oft weder diag-nostiziert noch behandelt, obwohl bereits nachgewiesen ist, dass ein Drittel aller deutschen Häftlinge Grenzgänger sind. Rückfälle sind somit wenig überraschend.
Im Haus 21 stehen gerade mal 18 Betten zur Verfügung. In ganz Deutschland gibt es maximal zehn spezialisierte Borderline-Stationen wie diese. Menschen aus dem gesamten deutschsprachigen Raum rufen Dulz an, auf der Suche nach Hilfe. Die meisten muss er ablehnen, denn die Warteliste ist lang: Bis zu einem Jahr müssen Frauen warten. Männer kommen schneller dran, weil es unter den Borderlinern weniger von ihnen gibt, es therapeutisch aber sinnvoll ist, Männer und Frauen gemeinsam zu behandeln. „Wir gehen davon aus, dass es gut ist, wenn unsere Patientinnen erleben, dass auch Männer Opfer von Gewalt werden können.“
Dulz nimmt fast nur noch PatientInnen aus dem Großraum Hamburg. „Das ist besser für die Nachsorge.“ Gründe, jemanden abzulehnen, gibt es neben der beschränkten Kapazität viele: „Therapie ist nicht nebenwirkungsfrei, und die schlimmste Nebenwirkung ist der Suizid.“ Aber auch wenn jemand zu aggressiv gegen andere ist, ist diese Station nicht geeignet: „Wir haben nur eine Nachtwache.“ Wenn Patienten Gewalt androhen oder ausüben, werden sie sofort rausgeschmissen, „denn Patienten wie MitarbeiterInnen müssen sich auf der Station sicher fühlen“. Die Kranken müssen außerdem freiwillig kommen, ihr Drogenproblem darf nicht zu sehr im Vordergrund stehen, sie dürfen keine eindeutigen Täter sein, sondern eher Opfer, bei denen die Therapie verhindern soll, dass sie zu Tätern werden. Auch ein laufendes Strafverfahren ist ein Grund, abgelehnt zu werden. „Denn wenn die dann ins Gefängnis müssen, bricht die gerade aufgebaute Beziehung zu den Therapeuten und Pflegern ab, was sich ungünstig auch auf künftige Therapien auswirkt“, sagt Dulz.
Wer kommen darf, bleibt durchschnittlich ein halbes Jahr. „Aber Einzelne leben hier auch zwei Jahre. Eine kurze Borderline-Therapie gibt es nicht.“ Manche bräuchten Monate, einem Therapeuten überhaupt zu vertrauen. Dulz begreift die Arbeit seines Teams als Prophylaxe. „Bis zu 50 Prozent der Opfer werden später zu Tätern.“ Je schlimmer die Patienten – also die Opfer – gestört sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie ihre eigenen Kinder quälen. Je früher die gestörten Opfer therapiert würden, desto wahrscheinlicher ließe sich diese Zwangsläufigkeit durchbrechen. „Insofern helfen wir Staat und Krankenkassen langfristig, Geld zu sparen. Aber es wird ja immer nur in Jahresbudgets bilanziert“, klagt Dulz.
Er ist davon überzeugt, dass Borderline-Störungen sich zu einem Massenphänomen entwickeln, weitgehend unbeachtet von den meisten psychiatrischen Kliniken. „Die Krankenhäuser haben auf Psychotiker gesetzt.“ Die aber könne man immer besser ambulant therapieren. Doch mehr als ein Viertel aller Patienten in den psychiatrischen Kliniken leiden unter Persönlichkeitsstörungen, die dann häufig falsch behandelt werden. „Weil der Druck in unserer Gesellschaft immer weiter wächst, benutzen immer mehr Menschen Gewalt als Ventil.“ Deshalb würden immer mehr Kinder misshandelt oder missbraucht.
Dulz wünscht sich, dass Krankenhausaufenthalt und ambulante Therapie besser miteinander verzahnt wären, „denn jeder Beziehungsabbruch ist ein Problem für den Borderliner“. Wenn jetzt ein Patient seine Station verlässt, aber noch ambulant therapiert wird, dann meist nicht von denen, denen er zu vertrauen gelernt hat. Aber statt auf- wird abgebaut: Bis Ende vergangenen Jahres gab es noch zwei Borderline-Stationen im Klinikum Nord. Jetzt ist es nur noch eine, und die besonders schwer Erkrankten werden wieder in allgemeinen psychiatrischen Stationen behandelt. Im Haus 21 kümmern sich eine Assistenzärztin, ein Oberarzt, eine Psychologin, eine Sozialpädagogin mit einer halben Stelle und zehneinhalb Pflegekräfte um die 18 PatientInnen. Das reicht gerade für eine wöchentliche psychotherapeutische Einzelsitzung pro Patient.
Die Therapie arbeitet an der Ich-Struktur. „Wenn die stabiler ist, braucht der Kranke nicht mehr an sich selbst herumzuschnippeln, keine Verbrechen mehr zu begehen und auch keine Drogen mehr zu nehmen“, sagt Dulz. Das klingt einfach, ist es aber nicht. Dafür müssen Borderliner grundlegend anders behandelt werden als Psychotiker. Das ist einer der Gründe, weshalb Dulz und seine Kollegen eine Station ausschließlich für Borderliner eingerichtet haben. „Wenn mehr als zwei von ihnen in einer allgemeinen psychiatrischen Abteilung sind, mischen sie den Laden auf“, sagt Dulz. Denn sie vernichten, was sie vernichtet – oder von dem sie glauben, dass es sie vernichtet. „Borderliner haben vor nichts so viel Angst, wie davor, verrückt zu sein.“
Aus dieser Angst heraus bedrohen sie beispielsweise ihre Mitpatienten, die schizophren sind oder andere Psychosen haben. Sind sie hingegen unter ihresgleichen, helfen und unterstützen sie sich gegenseitig. „Ihre Umgebung sieht in Borderlinern häufig nur das Aggressive und Destruktive“, sagt Dulz. Dabei seien sie oft charmant, humorvoll und intelligent. „Und wer das nicht sieht, kann Borderliner nicht behandeln.“
Wer sich für das Thema interessiert, kann im Internet über www. borderline-community.de Kontakt aufnehmen. In Hamburg gibt es eine Selbsthilfegruppe, die sich zweimal im Monat trifft.
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