: Zu Hause, aber nicht daheim
von NICK REIMER
Bei einem der zahlreichen Rückblicke hörte er dieses FDJ-Lied im Radio wieder. „Unsre Heimat, das sind nicht nur die Städte und Dörfer“. Liebwein überlegte, ob er den Text noch zusammenbekam. Ihm fiel der Schluss ein: „Und wir lieben die Heimat, die schöne, und wir schützen sie, weil sie dem Volke gehört“. Der Rest blieb in seinem Hirn verschollen.
Heimat. Darüber hatte sich Liebwein vorher nie Gedanken gemacht. Ihm fiel der Aufkleber ein, der zwischen Tschibo und Hanuta am Doppelstockbett seines Jugendzimmers geklebt hatte: „Meine Heimat: DDR“. Dass der rote Slogan auf FDJ-blauem Untergrund damals würdig war, in Liebweins Klebersammlung Platz zu finden, scheint heute sonderbar. Damals war das logisch. Der Knabe Liebwein war froh, dass sein Deutschland mit dem anderen, dem starken, anerkannten mithalten konnte. Die Nachbarschaft der Aufkleber diente als Beleg.
Er musste 14 oder 15 Jahre alt gewesen sein. „Meine Heimat: DDR“ stand für ihn in keinem Widerspruch zur „Jungen Gemeinde“, die über den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan debattierte, in keinem Widerspruch zur Unterschriftensammlung gegen den ätzend qualmenden Schlot in der Nachbarschaft. Nicht einmal im Widerspruch gegen die Ausreiseerwägungen seiner Eltern. „Meine Heimat: DDR“ war das Land, in dem er lebte. Ein kleines Land, das respektiert werden wollte. So wie er.
Vehement konnte er dieses kleine Land verteidigen. Der Cousin aus Schwaben pflegte, besuchte er das kleine Land, seine Sätze mit „Bei uns in Deutschland“ zu beginnen. Bei uns in Deutschland sind die Straßen besser. Bei uns in Deutschland sind die Menschen frei. Bei uns in Deutschland gibt es alles. Anfangs ärgerte sich Liebwein maßlos. Dann schlug er zurück: „Bei uns in Deutschland jedenfalls gibt es keine Arbeitslosen.“ Genüsslich beobachtete er, wie das schwäbische Weltbild ins Wanken geriet. Seit wann war denn Dresden eine Stadt in Deutschland?
Das heißt nicht, dass Liebwein „Meine Heimat: DDR“ wirklich als die seine empfand. Da waren schon die Vopos vor, die ihn, den Pennäler und unterwegs nach Prag, an der Grenze die Unterhosen ausziehen ließen. Natürlich fanden die Organe seines Landes nichts. Sie halfen Liebwein allerdings, herauszufinden, dass er seine Heimat in der DDR nicht finden würde.
Zu Hause sein, so viel wurde Liebwein klar, ist ein Gefühl. Heimat dagegen ein Bekenntnis. Vielleicht hätte die DDR für ihn zur Heimat werden können, wenn sie nur nicht so unheimlich gewesen wäre. Mit Sicherheit und Überschaubarkeit, dem Recht auf Job, auf Wohnung, Krippenplatz und der Fünf-Pfennig-Semmel ließ es sich zu Hause prima einrichten. Wehe aber dem, der sich auf die Straße traute: falsche Bekenntnisse allenthalben.
Es war nicht so, dass Liebwein die Idee vom Kommunismus, dem gerechten, nicht zu schätzen wusste. Wenn aber eine Idee und ein Interesse aufeinander treffen, blamiert sich immer die Idee. Nichts war in diesem deutschen Land so transparent wie das Interesse: stalinistisch vom Charakter her, in der Aktion ganz und gar ausgerichtet auf den Erhalt der Macht. Weil das kleine Land sogar den sportlichen Vergleich zum Klassenkampf stilisierte, schien es Liebweins Pflicht, für den Klassenfeind zu fiebern. Alles andere wäre ein Bekenntnis gewesen.
Sonderbar, dachte sich Liebwein, warum kann ich mich heute nicht zu diesem neuen Land bekennen, es zu meiner Heimat machen? Immerhin genoss er die Vorzüge, die ihm das neue Deutschland offerierte: VW, Venedig, Vierraumwohnung, Sony, Soave, Schafskäse. Und wenn etwas zu Bruch ging, das war ja das Beruhigende in diesem Land: Es gab Ersatz, für nahezu alles.
Warum also nicht Heimat? Eine verzweifelte, eine sehnsüchtige Frage. Leider allenfalls mit rhetorischem Gehalt. Denn wieder konnte er sich nicht mit dem System identifizieren. Schon wieder fühlte er sich hilflos, fremdbestimmt. War es früher die Partei, die ihn zu formen suchte, so ist das heute die Werbung. Mit einem wesentlichen Unterschied: Die rotgrauen Politniks waren längst nicht so perfekt. Früher war er, der der Diktatur des Proletariats zu entkommen suchte, ebenso Minderheit wie heute, wo es sich gegen die Diktatur des Konsums zu wehren gilt. Leider lässt er sich heute sehr viel öfter einfangen als einst. Früher erklärte ihm die SED, was richtig war, was falsch im Leben. Heute übernimmt das Deutschland-West. Nichts darf vom roten Osten bleiben. Sieht man mal vom grünen Pfeil ab.
Im Grunde verstand Liebwein den westdeutschen Abwehrreflex. Im Grunde sind die Westdeutschen bemitleidenswert. Immerfort gezwungen, ihr bisheriges Leben fortführen zu müssen. Immer gleichförmig so weiter, immer zu. Während unsereiner die, weltgeschichtlich gesehen, seltene Gelegenheit beim Schopfe packte, noch einmal ganz neu anzufangen – zumal diesmal mit erheblich besserem Whisky.
Ah, bitte schön, dachte sich Liebwein, da haben wir es wieder! Wann immer ich mich erinnere, heißt es: „Nostalgie!“ Wenn ich kritisiere – „Larmoyanz!“ Halt ich mich zurück, so schallt es: „Ignorant!“ Und werd ich vehement, bläst mir geballtes Unverständnis entgegen. Dabei ist die Spezies Jammerossi nur ein großes Missverständnis. Dass die Sachsen, Anhaltiner, Mecklenburger heute immer noch zu schimpfen pflegen, ist nur ein jahrzehntelanger Brauch – ihr kruder Weg zur Sinngebung.
Und sicherlich auch Medizin. Denn noch immer sitzt die Kränkung tief. Auch wenn es keiner hören will, sinnierte Liebwein – so schnell macht uns das keiner nach. Immerhin haben wir unsere Atomkraftwerke schon abgeschaltet, haben ein Zwanzigstel der Fläche in Naturparks umgewandelt, haben erstmals überhaupt in Deutschland erfolgreich revolutioniert. Jawohl: Wir haben Mauern eingerissen, uns selbst die Demokratie gelehrt.
Und müssen uns dafür rechtfertigen. Wegen der Töpfchen, auf denen wir kollektiv zur Darmentleerung in der Krippe Sitzung hielten. Wegen all des schönen Geldes, was uns in den Rachen fließt. Wegen der Stasi, die uns zu Duckmäuser- und Denunziantentum erzog. Wegen all der ... – ach, mein Gott!
Liebwein ermahnte sich: Maß halten, sachlich bleiben. Warum nur wirst du ungerecht? Es wird wohl an den Träumen liegen, die ihn im Herbst 1989 befielen. An sein Gefühl, gefragt zu sein. An das Glück, etwas zu bewegen. An die Erhabenheit des Augenblicks: Wer sollte, wenn nicht wir, gestalten? Ihm fiel ein Text von Christa Wolf ein, der sein Gefühl in Worte goss. Gedacht als Präambel zur neuen DDR-Verfassung, formulierte sie:
Ausgehend von der humanistischen Tradition, zu welcher die besten Frauen und Männer aller Schichten unseres Volkes beigetragen haben,
eingedenk der Verantwortung aller Deutschen für ihre Geschichte und deren Folgen,
gewillt, als friedliche, gleichberechtigte Partner in der Gemeinschaft der Völker zu leben, am Einigungsprozeß Europas beteiligt, in dessen Verlauf auch das deutsche Volk seine staatliche Einheit schaffen wird,
überzeugt, daß die Möglichkeit zu selbstbestimmtem verantwortlichem Handeln höchste Freiheit ist, gründend auf der revolutionären Erneuerung,
geben sich die Bürger der Deutschen Demokratischen Republik diese Verfassung.
Welch hehrer, pathetischer Geist, dachte Liebwein. Welch wunderbares Bekenntnis. Das würde er sofort unterschreiben. Angesichts des Textes befiel Liebwein ganz leise ein Heimatgefühl. Heimat, jetzt war Liebwein sicher, ist für ihn die ostdeutsche Herbstzeit, die Monate zwischen alter DDR und neuer BRD.
Liebwein wurde unruhig. Wenn das stimmt, würde er zum Heimatlosen auf Lebenszeit. Ihm war nach „Hilfe!“-Schreien. Liebe Leut, so helft mir doch. Ich stehe hier und weiß nicht weiter.
Im Radio gab’s Reklame.
Hinweise:Früher erklärte ihm die SED, was richtig war, was falsch im Leben. Heute übernimmt das Deutschland-West
Zitat:„Die Möglichkeit zu selbstbestimmtem Handeln ist höchste Freiheit“ (Christa Wolf 1990 in der Präambel zur DDR-Verfassung)
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