piwik no script img

„Qual für Richter“

Mit der Europäischen Menschenrechtskonvention hat Großbritannien jetzt schriftlichen Grundrechtekatalog

DUBLIN taz ■ Seit Montag ist die Europäische Menschenrechtskonvention in Großbritannien in Kraft. Damit haben Briten zum ersten Mal das Recht, vor einem einheimischen Gericht europäisch einheitlich und schriftlich festgelegte Grundrechte einzuklagen. Bisher konnten sie dafür schon vor den Straßburger Gerichtshof für Menschenrechte ziehen, doch zuvor musste der Rechtsweg in Großbritannien ausgeschöpft sein. Die Briten können sich nun ohne den Umweg über Straßburg gegenüber Regierung und staatlichen Organen wie Schulen, Krankenhäuser, Gefängnisse und Polizei auf einen geschriebenen Grundrechtekatalog berufen. Der Einfluss der Richter auf die Politik steigt damit erheblich. Die Richter können jetzt Gesetze zurückweisen, wenn sie den Grundrechten widersprechen.

Zwei Testfälle werden noch in dieser Woche verhandelt. Die Familien zweier hirngeschädigter Patienten, die seit Monaten im Koma liegen, wollen die künstliche Ernährung absetzen lassen, damit ihre Angehörigen sterben können. Sie berufen sich auf Artikel 3 der Menschenrechtskonvention, der unmenschliche Behandlung verbietet. Staatsanwalt Laurence Oates will dagegen Artikel 2, der das Recht auf Leben garantiert, angewendet wissen. Klarer wird die Rechtslage durch die Neuerung also nicht unbedingt.

Britische Bürgerrechtler feiern die Übernahme der Konvention als großen Fortschritt. Der englische Staranwalt Geoffrey Robertson erinnerte daran, dass die Menschenrechtskonvention lediglich eine Liste elementarer Garantien in einfachem Englisch sei: „Für diese Prinzipien haben radikale Engländer durch die Jahrhunderte gekämpft und ihr Leben gegeben.“ Der britische Industriellenverband CBI hält die Reform dagegen für „unnötig und schlecht für die Industrie“, denn man müsse mit einer Prozesslawine rechnen. Ein Richter in Schottland, wo die Menschenrechtskonvention bereits vor einem Jahr eingeführt worden ist, bezeichnete den Grundrechtskatalog als „Spielwiese für Spinner, eine Qual für Richter sowie Gesetzgeber und eine Goldgrube für Anwälte“. RALF SOTSCHECK

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen