: Belgrader kämpfen um ihr Parlament
Hunderttausende Menschen protestieren gegen Jugoslawiens Präsident Slobodan Milošević. Demonstranten dringen in das Parlamentsgebäude ein. Polizeifahrzeuge umgestürzt
BELGRAD ap/afp/rtr/taz ■ Die Gegner von Slobodan Milošević versammelten sich gestern zu Hunderttausenden zur bislang größten Kundgebung gegen den jugoslawischen Präsidenten in Belgrad. Am späten Nachmittag flammten am Parlamentsgebäude Feuer auf. Demonstranten versuchten, das Haus zu stürmen. Zumindest einigen von ihnen gelang das auch. Aufgebrachte Gegner des Regimes warfen Bilder von Milošević aus dem Parlament. Die Polizei ging mit Tränengas, Blendgranaten und Schlagstöcken gegen die protestierenden Menschen vor. Laut Rundfunkberichten sollen auch Schüsse gefallen sein. Nach Augenzeugenberichten wurden Dutzende Menschen verletzt. Mehrere Polizeifahrzeuge wurden in Brand gesetzt.
Seit dem Morgen hatten sich aus allen Teilen Serbiens Autokonvois in Richtung Hauptstadt in Bewegung gesetzt. Dabei durchbrachen die Oppositionsanhänger Straßensperren der Polizei. Am Nachmittag um 15 Uhr war ein Ultimatum der Opposition an Präsident Slobodan Milošević abgelaufen, doch noch den Wahlsieg des Oppositionskandidaten anzuerkennen und zurückzutreten.
Zuvor waren weitere Einzelheiten der Entscheidung des Verfassungsgerichts über eine Annullierung der Präsidentenwahl vom 24. September bekannt geworden. Der Vorsitzende des Gerichts, Milutin Srdić, forderte eine Neuauflage der Wahl. „Wir werden noch mal von vorne beginnen, unsere Entscheidung ist endgültig“, sagte er.
Oppositionsführer Vojislav Koštunica lehnte die Wiederholung der Wahl kategorisch ab. Der DOS-Präsidentschaftskandidat schlug als Lösung der politischen Krise stattdessen vor, die umstrittenen Wahlzettel vom 24. September erneut auszuzählen. Dies sei der einzige Weg der Lösung der politischen Krise, sagte Koštunica. Der neueste Versuch von Milošević, seinem Volk zu trotzen, werde scheitern.
US-Außenministerin Madeleine Albright kritisierte, die Entscheidung des Verfassungsgerichts sei ein neuer Versuch, „den Willen des Volkes zu konterkarieren“. In einer von der französischen EU-Ratspräsidentschaft verbreiteten Erklärung kritisierte die Europäische Union die Annullierung der Wahl als „Versuch von Milošević, der Opposition den Sieg zu stehlen“. Russlands Präsident Wladimir Putin erneuerte seine Einladung an Milošević und Koštunica.
In der Kohlegrube von Kolubara hielten sich gestern immer noch mehrere hundert streikende Arbeiter und Oppositionsanhänger auf. In einer Solidaritätsadresse der Minenarbeiter an das Oppositionsbündnis DOS hieß es: „Seid unbesorgt, wir erfüllen unsere Schuld gegenüber unserem Vaterland. Wir hoffen, dass wir heute Abend unseren Präsidenten Vojislav Koštunica per Akklamation begrüßen können.“ Am Vortag war ein Versuch der Polizei, die Mine zu stürmen, am Widerstand von tausenden Oppositionsanhängern gescheitert, die den streikenden Kumpeln zu Hilfe gekommen waren.
Russland lehnte es nach Angaben der Nachrichtenagentur Itar-Tass ab, ein mögliches Treffen der Balkan-Kontaktgruppe zu bestätigen. Das US-Außenministerium hatte zuvor erklärt, ein Treffen am Wochenende sei möglich. Zur Balkan-Kontaktgruppe gehören neben Russland und den USA auch Großbritannien, Deutschland, Frankreich und Italien. Nach Angaben von Diplomaten gab es in den vergangenen Tagen mehrfach Telefonkontakte. BO
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