: Ästhetik des letzten Blickes
■ Der Hamburger Fotograf DG Reiß suchte in Santiago de Chile Orte auf, an denen Menschen durch die Hand der Militärs starben
Ein grob gemauerter Zaunpfosten in der Avenida José Arrieta 8200 in Santiago de Chile. Leeres Gelände dahinter. Ein billiger Drahtzaun markiert ein abgeschlossenes Gelände. Ein Detail der „Villa Grimaldi“, dem Folterzentrum der chilenischen Geheimpolizei bis 1977. Hier wurden unzählige Menschen gefoltert, vergewaltigt, getötet. Der Fotograf DG Reiß besuchte die chilenische Hauptstadt und suchte nach den Orten, die bis heute stumm von den Leiden der Opfer der Militärdiktatur (1973-1990) erzählen.
2.300 Menschen verloren nach offiziellen Angaben des Rettig-Berichts der „Kommission für Wahrheit und Versöhnung“, der die grausamen Auswüchse der Militärdiktatur untersuchte, durch die Hand der Militärs ihr Leben. Wie der Rettig-Bericht scheint DG Reiß nach einer korrigierenden Geschichtsschreibung für Chile zu suchen. Doch das Erinnern an die Diktatur spaltet die Gesellschaft – weite Teile der Bevölkerung des südamerikanischen Landes haben ihre Vergangenheit wahrhaft „bewältigt“. Die Korrektur der Geschichtsschreibung ist der einzige Trost für die Opfer der Diktatur – selbst die Wahrheitsfindungs-Kommission hatte das ursprünglich für ihren Namen eingeplante Wort „Gerechtigkeit“ aus ihrem Namen gestrichen, weil sich niemand vorstellen konnte, dass im nachdiktatorialen Chile eine juristische Aufarbeitung der Geschichte stattfinden werde.
Der unklare Blick über eine Vorstadtsilhouette von la Victoria. Am 4. September 1984, dem zehnten Protesttag gegen die Diktatur, wurde an dieser Stelle der 43-jährige Priester Andre Jarlan von einer Polizeikugel getroffen, als sein Haus unter Feuer genommen wurde. Gerade schrieb er an einer Predigt für einen Jungen, der in der Nähe seines Hauses von Soldaten erschossen wurde.
Der Betonboden vor dem Haus in der Calle Bulnes 26, an dem genau fünf Jahre später der 28-jährige MIR-Aktivist Jécar Neghme durch zwölf Kugeln starb, abgefeuert vom „Kommando 11. September“, das sich in die Tradition des Putsches vom 11. September 1973 stellt. Der Fotoausschnitt: Der letzte Blick des Toten?
Der Fotograf machte seine Bilder im Oktober 1997 und im März 1998 – Zeit des Übergangs in Chile: Die Erkenntnisse des Rettig-Berichts diffundierten langsamer als erwartet in die Gesellschaft; auf dem chilenischen Buchmarkt erschienen immer mehr biografische Erinnerungen an die Diktatur während Texte über die Sozialpsyche der chilenischen Gesellschaft im Bücherregal verstaubten, soweit sie überhaupt geschrieben wurden. Pinochet war noch nicht verhaftet, der Sozialist Ricardo Lagos noch nicht zum dritten demokratischen Präsidenten nach Pinochet gewählt. Die Opfer in der alten Agonie: Die Diktatur siegt immer noch.
Groß aufgezogen hat der Fotograf die Prints – im Kontrast zu der bescheidenen und reduzierenden Motivwahl. Wie die Plakate der Mütter der Verschwundenen, auf denen alte Bilder der Opfer zu sehen sind, klagen auch die Orte an: Es gab Opfer, die nicht vergessen werden dürfen. Wer ist dafür verantwortlich? cd
„Testigos invisibles – Unsichtbare Zeugen, Chile 1973 - 1990“ Ausstellungseröffnung am heutigen Samstag, 19.30 Uhr, Villa Ichon. Am 13. Oktober um 19.30 Uhr findet am gleichen Ort eine Podiumsdiskussion unter dem Titel „Kunst und politische Verantwortung?“ statt. Eingeladen ist neben dem Fotografen auch der chilenische Botschafter und Schriftsteller Antonio Skármeta.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen