Von Ohnmacht und Moral

Doron Rabinovici hat die tragische Geschichte des Wiener Judenrats neu untersucht. In seiner brillanten Studie widerspricht er der Totalitarismustheorie von Hannah Arendt

von MICHA BRUMLIK

Distanz zum Geschehen gilt zumal in der historischen Forschung als Vorbedingung aller Wahrheitssuche und Unterpfand unparteiischen, gerechten Urteilens. Situationen extremer Verstrickung müssten dementsprechend von jenen, die ihnen nicht ausgesetzt waren, besonders nachsichtig und verständnisvoll beurteilt werden. Die spätestens mit Hannah Arendts Buch „Eichmann in Jerusalem“ einsetzende Debatte über die Judenräte im nationalsozialistisch besetzten Europa beweist das Gegenteil.

Wie keine andere setzte sich die rechtzeitig in die USA emigrierte Arendt während des Jerusalemer Eichmann-Prozesses mit der Leitung vor allem der Wiener jüdischen Gemeinde auseinander – und scheute sich nicht, sie der aktiven Kollaboration zu bezichtigen. Vor dem Hintergrund ihrer anspruchsvollen Totalitarismustheorie – die mit dem, was sonst unter diesem Namen feilgeboten wird, wenig zu tun hat – wollte sie nachweisen, dass jede Form bürokratischen Handelns, von welcher guten Absicht auch immer getragen, letztlich zum Verlust von Leben und Freiheit führt. Sie vertrat die These, ohne die erfassende Tätigkeit der Gemeindeleitung wären viel weniger Wiener Juden deportiert und ermordet worden.

Diese rein theoretische, vor allem durch Deutungen von Prozessaussagen anschaulich gemachte Behauptung hat der Wiener Schriftsteller und Historiker Doron Rabinovici einer peniblen Überprüfung unterzogen. Mit seinem nun vorgelegten Buch „Instanzen der Ohnmacht“ wird es möglich, die Tragfähigkeit, aber auch die Grenze von Arendts Hypothese zu prüfen. Auf der Basis von Quellen über die Jüdische Gemeinde Wiens von 1938 bis 1945 und Eichmanns Wirken dort, die in dieser Form der deutschsprachigen Forschung noch nicht vorlagen, zeichnet Rabinovici nicht nur eine engmaschige Verlaufsgeschichte der Verfolgung und Vernichtung der Juden in der Donaumetropole, sondern auch aufschlussreiche Portraits der Handelnden beziehungsweise ihrer Handlungsmöglichkeiten beraubten Personen.

Mit Adolf Eichmann und seinen Mitarbeitern sowie mit der Leitung der – von Eichmann nicht völlig ausgetauschten – Jüdischen Gemeinde stand die Konstellation, die zum Tode der Wiener Juden führte. Josef Löwenherz, Emil Engel und später vor allem der ehrgeizige und herrschsüchtige Rabbiner Benjamin Murmelstein setzten die von den Nationalsozialisten gewünschte, als „Auswanderung“ schöngeredete Vertreibung in Gang und waren an der Organisation der Deportation beteiligt.

Die psychologischen Detailstudien, die Rabinovici vor allem zu Löwenherz und Murmelstein vorlegt, ermöglichen es, die von Arendt erhobenen Vorwürfe genauer zu überprüfen und nachzuweisen, dass sie in gewisser Weise gegenstandslos sind. Denn die Einstellungen, Hoffnungen und Erwartungen der jüdischen Funktionsträger konnten gegensätzlicher nicht sein: das durchaus bürokratisch geprägte Pflichtbewusstsein von Löwenherz hier und die von Anmaßungen und persönlichen Hoffnungen, von Heftigkeit und Eitelkeit geprägte Haltung Murmelsteins dort. Gleichviel: Angesichts des Vernichtungswillens und des Sadismus von Eichman und seinen Mitarbeitern verblassen diese charakterlichen Unterschiede und schrumpfen schlicht zur nackten Angst, wachsen aber auch zur heroischen Bereitschaft, unter allen Umständen gegen den Tod anzukämpfen.

So fällt ein aufschlussreiches Licht auf Arendts EichmannBuch: Aus verständlichen Gründen hat sie dessen nichtige Persönlichkeit sehr viel mehr Aufmerksamkeit geschenkt als den von ihr attacktierten jüdischen Repräsentanten. Eben deshalb unterlief ihr eine folgenschwere Fehleinschätzung: Rabinovici kann nachweisen, dass Eichmann keineswegs jenes etwas trottelige und eitle Rädchen im Getriebe war, das Arendt in ihm sehen wollte. Tatsächlich führte er sich in seinen ersten Wiener Jahre als erpresserischer, brutaler Exekutor gegenüber der von ihm eingesetzten Gemeindeleitung auf, der gerne auch Schläge als Druckmittel einsetzte.

Von einer Verführung der Gemeindeleitung durch die Vorgabe vermeintlicher Handlungsmöglichkeiten kann zwar durchaus die Rede sein, aber nicht so, dass die Verführten einem solchen Werben von sich aus aufgesessen wären – sie wurden dazu genötigt. Daraus schließt Rabinovici, dass von einer Führung im eigentlichen Sinne gar keine Rede sein kann, weswegen er sich des NS-Begriffs „Amtsleiter“ bedient. Diese als „Amtsleiter“ bezeichneten Judenräte seien weder eine jüdische Führung noch eine nationalsozialistische Institution, aber auch nicht nur blanke Befehlsempfänger gewesen.

„Wären sie reine Untergebene der NS-Behörden gewesen“ so Rabinovicis Resümee, „so hätte es keiner Scheinverhandlungen mit ihnen, keiner Lügen und Täuschungen bedurft. Sie setzten sich für die Wiener Juden ein, feilschten um das Leben so vieler wie möglich, verweigerten die Durchführung mancher Weisungen und erfüllten letztlich die meisten behördlichen Aufträge, doch immer im Glauben, der jüdischen Gemeinschaft zu dienen. Sie mussten belogen werden, weil sie eben keine NS-Befehlsempfänger waren, und sie konnten nur allzu leicht belogen werden, weil den Opfern das Verbrechen völlig widersinnig erscheinen musste.“

Ohne dass der Autor die spärlichen Hinweise auf Michel Foucault entfaltet, wird so doch der Umriss eines anderen theoretischen Rahmens als des von Arendt gewählten totalitarismustheoretischen Modells sichtbar. Wo Arendt unbeirrt alteuropäisch und beinahe existenzialistisch von wirklich verantwortlichen, freien Akteuren ausgeht, die sich ihrer Verantwortung schuldhaft entziehen können, sieht Rabinovici die Menschen von Machtverhältnissen, derer sie grundsätzlich nicht Herr werden können, durchzogen. Dass diese Perspektive nur angedeutet, aber nicht entfaltet wird, hat eine systematische Ursache. In dem Augenblick, in dem sie zu konsequent gefasst wird, entfällt jede Möglichkeit, die Geschehnisse moralisch zu beurteilen, so dass am Ende auch die Täter exkulpiert würden.

Fasst man Foucaults These von der Allgegenwart der Macht jedoch als empirische Behauptung auf, derart, dass Menschen in unterschiedlichen Situationen ganz unterschiedlich von Macht oder Ohnmacht durchwirkt sind, entsteht eine Perspektive, die den tatsächlichen Geschehnissen besser entspricht als Arendts handlungstheoretischer Rahmen. Nun wird es möglich – und nichts anderes tut Rabinovici –, im Einzelfall und genetisch zu untersuchen, wie vorhandene Macht ausgeübt und Ohnmacht verordnet und induziert wird. Dann wird sichtbar, dass Konstellationen denkbar sind, in denen auferlegte Ohnmacht jede, aber auch jede Rationalität des Handelns zerstört.

Rabinovicis Fallstudie zur Wiener Gemeindeleitung bestätigt Dan Diners These von der Gegenrationalität der NS-Judenverfolgung, die die Opfer gerade dadurch, dass sie ihnen die unaufgebbare Möglichkeit rationalen Handelns zur Rettung von Menschenleben vorgaukelte, umso stärker entwürdigte und instrumentalisierte. Dass einzelne Individuen sich nach Erziehung, Prägung und Temperament auch in dieser Situation unterschiedlich verhielten und verhalten mussten, widerlegt diese Annahme nicht, im Gegenteil: Gerade das vermeintlich differenzierte Wahrnehmen eines grundsätzlichen Widersinns schloss die Falle, in der sich die Pseudoakteure befanden.

Rabinovici hat mit seiner brillanten Studie nicht nur eine Forschungslücke geschlossen, sondern auch eine tragische Geschichte erzählt und ein moralphilosophisches Traktat von äußerster Eindringlichkeit verfasst. Indem er sich – anders als Hilberg – nicht nur auf die Quellen der Verfolger, sondern vor allem auf die der Opfer stützt, gelingt es ihm paradoxerweise, die Distanz einzunehmen, die von Unbeteiligten zu erwarten wäre. Die „Instanzen der Ohnmacht“ stellen damit, ohne in Stil und Prägnanz Arendts Buch über „Eichmann in Jerusalem“ nur annähernd zu erreichen, einen entscheidenden Gegenentwurf zu ihr dar – nicht nur, was die historische Forschung betrifft.

Mit den „Instanzen der Ohnmacht“ liegt eine Studie vor, die gemeinsam mit Arendts Eichmann-Buch zu den Grundlagentexten einer politischen Philosophie des zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhunderts gehört. Denn so singulär an Ausmaß und Grausamkeit die Ermordung der europäischen Juden durch die deutschen Nationalsozialisten war, so sehr sind Prozesse und Charakterstrukturen, die diese Mordtaten ermöglichten, in die Geschichte auch des neuen Jahrhunderts eingeschrieben. Mordlust, Gleichgültigkeit und notwendig fehlgeleiteter Wille zur Rettung in ausweglosen Situationen prägen auch die Genozide dieser Jahrhundertwende: von Bosnien bis Ruanda. Eine distanzierte Haltung ist uns kaum möglich.

Angesichts dessen wird aber auch deutlich, was Arendt selbst gewiss klar gewesen ist und was aus ihren Briefen etwa an Jaspers aus der Zeit des Eichmann-Prozesses ganz deutlich wird: dass ihre vorgeblich so kühle, sarkastische Betrachtungsweise in Wahrheit der leidenschaftliche Ausbruch einer zufällig Davongekommenen war, die sich vorstellt, wie sie sich, um ihr Leben zu retten, hätte verhalten können. Ob Arendt sich unter den realen Bedingungen der Ohnmacht, wie Rabinovici sie akribisch schildert und analysiert, wirklich so verhalten hätte – sie wusste es nicht einmal selbst.

Doron Rabinovici: „Instanzen der Ohnmacht. Wien 1938 – 1945. Der Weg zum Judenrat“. Jüdischer Verlag, Frankfurt 2000, 495 S., 49,80 DM