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Der freizügige Herzensfritz

Im mitteldeutschen Dorf Röcken wurde 1844 Friedrich Nietzsche geboren, hier findet sich auch sein Grab. In der DDR nur von echten Fans des Philosophen besucht, erlebt die Gemeinde heute einen Aufschwung als literarischer Pilgerort. Streit gibt es auch – um das Nietzsche-Denkmal „Röckener Bacchanal“

von CLAUS LÖSER

Wenige Kilometer auf der B 87 hinter Lützen in Richtung Weißenfels liegt rechter Hand die kleine Gemeinde Röcken, leicht zu übersehen. Dieses Röcken war für den von seiner Mutter liebevoll „Herzensfritz“ genannten Nietzsche der Inbegriff von Heimat – wenn er auch nur sechs Jahre seines Lebens (1844 bis 1850) hier verbracht hat. Der Tod des Vaters, eingeleitet durch Jahre des aufkeimenden Wahnsinns, führte zur Vertreibung aus dem frühkindlichen Paradies. Das Pfarrhaus musste für den neuen Amtsträger rasch geräumt werden.

Was folgte, stellte sich für Fritz als eine Odyssee der Rastlosigkeit dar: Naumburg, Schulpforta, Bonn, Leipzig, Basel, Sils-Maria, Venedig, Genua, Messina, Rom, Rapallo, Nizza, Turin. Als Pflegefall schließlich die Rückkehr in den Naumburger Frauenhaushalt von Mutter und Schwester, Eintritt in zwölf Jahre des Dämmerns. Heimat im Wahnsinn, wenn man so will. Tod in Weimar am 25. August 1900 in der von Elisabeth Förster eingerichteten Villa „Silberblick“. Dieser umtriebigen Schwester ist es auch zu danken, dass sowohl ihre eigenen Gebeine als auch die ihres Bruders heute in Röcken liegen. Sie war es, die den Nachlass des Bruders noch zu dessen Lebzeiten schamlos gefälscht, die Mussolini nach Weimar eingeladen und ebenda Hitler den Spazierstock des „Hammerphilosophen“ überreicht hat. All dies führte dazu, dass diesem kleinen Gemeinwesen als letzte Ruhestätte der Familie Nietzsche in der DDR ein Sonderstatus zukam. 1987 hatte ich schon einmal eine Reise in das Dorf unternommen, auch damals war Herbst. Trauben von reifen Äpfeln und Birnen in den Vorgärten, alle Höfe palisadenartig verschlossen, unbefestigt die Straßen. Eben dieser Zustand morbider Idylle, den man damals nicht so recht zu schätzen vermochte. Kein Hinweisschild. Den Weg zur Kirche wies ihr Turm: Hier wusste man das Grab jenes Mannes, der in so hohem Maße tabuisiert war, dass die Beschäftigung mit ihm schon wieder auf der Hand lag. Im Gymnasialunterricht kam er nicht vor, Dylan besang ihn, und mein ansonsten staatstreuer Vater behandelte seine Gesamtausgabe wie eine Reliquie. Dort hatte ich von seinem Geburtsort gelesen und konnte kaum glauben, dass der nur wenige Dutzend Kilometer von meiner Heimatstadt entfernt lag.

Musternder DDR-Blick

Es war ein Sonntag, und ich war nicht allein am Pilgerort. Unschwer an der Kleidung und am konspirativen Gebaren zu erkennen, strebten weitere Besucher auf das Grab zu. Man musterte sich mit diesem typischen DDR-Blick: mit gesenktem Kopf, von unten herauf. Am Pfarrhaus, die Marmorplatte voller Blumen. Hinter den Fenstern wackelnde Gardinen. Schließlich trat der Pfarrer aus seiner Amtsstube, begrüßte stumm, doch freundlich nickend die Besucher und erteilte so der Prozession irgendwie seinen Segen. Es muss Spekulation bleiben, ob es in der DDR noch zu einer historischen Vereinnahmung Friedrich Nietzsches gekommen wäre, so wie dies vorher schon mit Martin Luther, Friedrich II., Bismarck oder Karl May geschehen war.

Die offizielle Tabuisierung hielt jedenfalls bis Ende 1989 an. Während das Nietzsche-Archiv für die ostdeutsche Öffentlichkeit unzugänglich blieb, konnten dort westliche Experten ungehindert recherchieren; die „Kritische Gesamtausgabe“ von Giorgio Colli und Mazzino Montinari wäre ohne diesen Umstand gar nicht möglich gewesen. Einerseits konnte man als DDR-Bürger Texte über Nietzsche zwar lesen (z. B. von Thomas Mann und Theodor Lessing), die eigentlichen Quellen aber nicht. Heiner Müller oder Stephan Hermlin machten aus ihrer Verehrung für den Philosophen kein Hehl. Wolfgang Harich hingegen, Exdissident und Gisela-May-Gatte, schoss noch bis in die späten 80er hinein scharf. Nachdem er schon unter Walter Ulbricht die Einebnung des Grabes in Röcken gefordert hatte, klagte er noch in einem 1987 erschienenen Artikel der Literaturzeitschrift Sinn und Form einen unerbittlichen Standpunkt gegenüber dem seiner Meinung nach verderblichen Einfluss Nietzsches ein.

Diese Kämpfe sind ausgefochten, erleben nur im Neuen Deutschland noch leise Nachbeben. Hermlin, Müller, Harich sind ebenso tot und begraben wie das Subjekt ihres Streits. Aber nun gibt es doch wieder Streit – und das ausgerechnet um Nietzsches Grab. Die Hauptstraße des Dorfes Röcken zeigt sich heute akkurat gepflastert, viele der Häuser sind frisch getüncht. Allenthalben gibt es Wegweiser zum Grab des großen Sohnes, dessen 100. Todestag gerade durch die Feuilletons gerauscht ist. Kein Mensch unterwegs. Endlich mache ich einen älteren Herrn in seinem Garten aus, gehe auf ihn zu. Woraufhin er sofort verschwindet. Als ich jedoch das Gehöft passiert habe und mich umwende, steht er schon wieder da, mit misstrauischem Blick. Ein paar Meter weiter dann eine Unkraut zupfende Frau, zwei Katzen streichen um ihre Beine: „Ja, in der DDR da wussten wir doch gar nichts“, schießt sie los. „In der Schule haben sie uns nichts von dem erzählt. Wir wussten zwar, da gab es einen großen Grabstein, und manchmal kamen sogar Busse aus dem Westen, aber sonst?“

Das Geburtshaus Nietzsches ist nicht mehr zu übersehen. Strahlend weiß steht es neben der Dorfkirche, für mehr als 300.000 Mark neu hergerichtet. Vom Fundament bis zum Giebel totalsaniert: entkernt, verkabelt und wärmegedämmt, mit abgeschliffenen Dielen und moderner Heizung ausgestattet. Denkmalschutz, wie ihn nur die Deutschen verstehen. So erinnert das Gebäude eher an ein abgeworfenes Musterhaus als an eine historische Anlage; von Aura keine Spur. Pfarrer Falko Schilling ist für mich nicht zu sprechen, er hat das schmucke Häuschen noch nicht bezogen.

Gedenken im Stall

Dafür empfängt mich umso freundlicher Frau Dorothée Berthold, eine der unermüdlichen Ehrenamtlichen des Heimatvereins, die eine kleine Dauerausstellung zum Leben Nietzsches in Röcken am Leben halten. Diese Schau befindet sich im ehemaligen Stall neben dem Pfarrhaus, zwei kleine Räume, ruinöser baulicher Zustand, natürlich keine Heizung. Eine nicht zu übersehende Diskrepanz zum Pfarrhaus gleich nebenan. „Die Kirchenverwaltung hat ja gar kein Geld“, erfahre ich.

Die Sanierung des Pfarrhauses sei ausschließlich über Gelder des Denkmalschutzes und durch das Dorfsanierungsprogramm erfolgt. Warum nur muss dann die Ausstellung ihr Dasein im Stallgebäude fristen? Spielte bei der Bewilligung öffentlicher Gelder der Name des berühmten Sohnes etwa gar keine Rolle? Und weshalb hat Herr Schilling denn nicht eines der Pfarrhäuser in den anderen Gemeinden zwischen Röcken und Weißenfels bezogen, die allesamt durch ihn betreut werden? Verlegenes Schulterzucken. Frau Berthold, zwar sichtlich lockerer geworden, nachdem ich mich als Ostler zu erkennen gegeben habe, bleibt loyal gegenüber dem Gottesmann. Doch bei einem Rundgang um die Kirche geht die Empörung mit ihr durch. Ausgerechnet neben dem Haupteingang soll eine Skulpturengruppe namens „Röckener Bacchanal“ aufgestellt werden. Gegen dieses Machwerk würden sich nun Heimatverein und Nietzsche-Gesellschaft mit Händen und Füßen wehren, leider mit wenig Aussicht auf Erfolg. Ralf Eichberg, Geschäftsführer der Nietzsche-Gesellschaft, wird noch deutlicher, spricht von einem Skandal.

Da gibt es also den sich als Künstler verstehenden Klaus-Friedrich Messerschmidt, der seine ursprünglich als „Mutter-Sohn-Gruppe“ deklarierte Skulptur jetzt als „Röckener Bacchanal“ bezeichnet und wild entschlossen scheint, das Werk unmittelbar in Grabesnähe aufzustellen. Seine Arbeit zeigt Nietzsches Mutter Franziska im Arm ihres Sohnes vor dessen eigenem Grab. Links und rechts von der Grabplatte steht jeweils noch einmal der „Herzensfritz“, bis auf einen Hut, den er vors Gemächt hält, völlig nackt. Messerschmidt übernimmt dabei wörtlich eine Passage aus Nietzsches berühmten „Wahnsinnsbrief“ an den verehrten Baseler Professor Jacob Burckhardt vom 6. Januar 1889, in dem er von seinem Traum spricht, sich zweimal leicht bekleidet am eigenen Grab gesehen zu haben. Man kann von dieser Art Naturalismus halten, was man will, der Skandal besteht – jenseits der Ästhetik – in dem Umstand, dass diese wuchtige Bronzeplastik vollständig von der evangelischen Kirche bezahlt wird, von jener Institution also, die eben noch keinen Pfennig für die Renovierung des Geburtshauses erübrigen konnte.

Der Hintergrund erweist sich als überaus irdisch: Frau Superintendentin Lenk ist mit dem Künstler befreundet. Bereits am 15. Oktober, dem 156. Geburtstag des Philosophen, soll das Kunstwerk feierlich enthüllt werden. Bis dahin läuft die Nietzsche-Gesellschaft Sturm. In einem Brief der Vorsitzenden, Frau Prof. Dr. Renate Reschke, an den Konsistorialpräsidenten der Evangelischen Kirche Sachsens, Herrn Hans-Joachim Kiderlen, heißt es ultimativ: „Der Vorstand der Nietzsche-Gesellschaft sieht darin einen Grund, die für diese Veranstaltung geplante Zusammenarbeit mit der evangelischen Kirche abzusagen. Ich selbst würde in diesem Fall, zu meinem großen Bedauern, meine Bereitschaft zur Teilnahme zurückziehen müssen.“

Kein Aufstand zum Fest

Was Eichberg besonders ärgert: die Aufstellung des Ensembles hätte eigentlich durch die Kirchengemeinde abgenickt werden müssen. Aus DDR-typischem Opportunismus wurde dieser Versuch eines Aufstandes gegen den bekundeten Willen der Obrigkeit aber gar nicht erst unternommen. Die Eskalation vor Ort stimmt eine Enthusiastin wie Frau Berthold verdrießlich. Zum 100. Geburtstag des Denkers weilten mehr als 250 Gäste im Dorf, es wurde musiziert und rezitiert. Als Überraschung gab es Pfannenkuchensuppe nach dem Originalrezeptbüchlein der Nietzsche-Frauen, die reißenden Absatz fand. In diese Suppe, die zum Geburtstag am 25. Oktober eigentlich wieder gekocht werden sollte, ist nun kräftig gespuckt worden.

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