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Wählen? Lassen!

aus Minsk BARBARA OERTEL

Der Moment ist historisch. Gerade hat Witali Semaschko im Montageraum des weißrussischen staatlichen Fernsehens die allererste Polit-Talkshow zusammengebastelt. Vorher hatte ihm der Direktor noch aufgetragen, den Vertreter der regimetreuen Kommunisten siegreich aus der Runde zu entlassen. „Kein Problem“, sagt Semaschko. „Am Ende gebe ich bekannt, dass sich die meisten Anrufer für die Kommunisten ausgesprochen haben.“

Nicht trotz, sondern gerade wegen dieser Lüge auf Anweisung von oben ist er mit seiner Arbeit zufrieden. Jetzt müsste auch der Letzte verstehen, dass die präsentierten Kandidaten nur Marionetten des Präsidenten und vollständig debil seien. „Ich habe sie alle gefickt und dabei meinen journalistischen Professionalismus befriedigt“, sagt Semaschko. Was er damit meint, ist: Er hat sie mit den Mitteln des Fernsehmediums gnadenlos bloßgestellt. Dann ist Semaschko schon wieder in Richtung Tür unterwegs: Treffen mit dem Fernsehchef zwecks Besichtigung und Abnahme der Produktion.

Am Sonntag sind die rund 10 Millionen Weißrussen zu Wahlen aufgerufen. Dabei ist die Repräsentantenkammer, deren 110 Sitze es zu besetzen gilt, ein Parlament der besonderen Art. Seit dem fragwürdigen Referendum vom November 1996, mit dem Staatschef Alexander Lukaschenko die geltende Verfassung aushebelte, sitzen hier nur handverlesene, präsidententreue Abgeordnete, die die Entscheidungen der Regierung absegnen dürfen. Begriffe wie Gewaltenteilung dürften die meisten von ihnen nur aus ausländischer Fachliteratur kennen.

Was ungeteilte Gewalt ist, wissen Kritiker von Lukaschenko dafür umso besser. Terror gegen Andersdenkende ist im System des Sowjetnostalgikers an der Tagesordnung. Regelmäßig werden Demonstrationsteilnehmer zusammengeschlagen und von der Miliz abgeführt, kritische Medien und deren Macher werden mit Gerichtsverfahren und Geldstrafen überzogen. Seit dem vergangenen Jahr sind dazu mehrere führende Oppositionelle verschwunden.

Da wundert es nicht, dass die Opposition die Bevölkerung dazu aufgerufen hat, am Wahltag zu Hause zu bleiben. Die faktische Machtlosigkeit des gleichgeschalteten Parlaments ist dabei nur ein Grund. „Wir haben kein Parlament und folglich auch keine Wahlen. Würden wir teilnehmen, würden wir das Regime legitimieren“, sagt Anatoli Lebedko, Chef der Vereinigten Bürgerpartei (OGP), einer konservativ-liberalen Gruppierung und Speerspitze der Boykottbewegung. Überdies ließen die derzeitigen Bedingungen ohnehin keine freien und fairen Wahlen zu. Weder hätten die Kandidaten einen gleichberechtigten Zugang zu den staatlichen Massenmedien, noch sei die Transparenz des Wahlprozesses gewährleistet.

„Lukaschenko kann sich das Resultat so hinbiegen, wie er es braucht. Auf seinem Feld zu agieren, ist für uns keine Perspektive“, sagt Lebedko, der mehrmals von der Miliz verprügelt wurde und es bereits auf sechs Gerichtsverfahren wegen Beteiligung an Demonstrationen gebracht hat. Kürzlich entdeckte er vor seinem Haus eine Abhöranlage. „Wir können nur gewinnen, wenn wir nach unseren eigenen Regeln spielen“, sagt Lebedko bestimmt.

Zu den Spielregeln der OGP gehört seit neuestem Bürgernähe. Seit Mitte vergangenen Monats gehen Vertreter der Partei in der Hauptstadt Minsk und in anderen Städten von Tür zu Tür und verteilen Material. Ein Infoblatt mit dem Foto zweier schmusender junger Leute unter dem Motto „Lieber mit dem Liebsten im Gras als solche Wahlen“ erläutert den undemokratischen Charakter des bevorstehenden Ereignisses. Wer sich überzeugen lässt, kann noch mit seiner Unterschrift quittieren, dass er für freie und gerechte Wahlen eintritt. Allerdings nur, wenn die Bedingungen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) erfüllt sind.

Diese Bedingungen, die nicht zuletzt die Voraussetzung für die Entsendung von Wahlbeobachtern sind, hatte die OSZE im vergangenen April erneut festgelegt. Auch die Kompetenzen des Parlaments sollten – neben einer Anpassung des Wahlgesetzgebung an OSZE-Standards, einem freien Zugang aller politischen Kräfte zu den elektronischen Medien sowie der Achtung der Menschenrechte – erweitert werden.

Ein letzte Diskussionsrunde der Technischen Konferenz Ende August in Wien endete ohne klares Ergebnis und ist eine Herausforderung für jeden Linguisten. Zwar seien einige Fortschritte zu verzeichnen. Jedoch nicht in dem Maß, dass die Bedingungen als erfüllt anzusehen seien, heißt es in der Abschlusserklärung. Daher empfiehlt die Konferenz eine vierwöchige Präsenz von Vertretern der OSZE, des Europarates und Europäischen Parlaments in Weißrussland als Beobachter „in ihrer Eigenschaft als Repräsentanten ihrer Organisationen“. Gleichwohl bedeute diese technische Mission keine internationale Anerkennung des demokratischen Charakters und Ergebnisses des Wahlprozesses.

So ganz wohl scheint auch dem Chef der OSZE-Mission in Minsk, Hans-Georg Wieck, nicht zu sein, doch hier lautet die Devise in allererster Linie Gesicht bewahren. „Auf diese Art und Weise bleibt der Dialog weiter möglich“, sagt Wieck. „Wir müssen eben weiter bohren. Wenn wir aufgeben, geht das zu Gunsten des Systems aus.“

Stanislaw Schuschkewitsch, ehemaliger Parlamentspräsident und heute als Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Gromada einer der schärfsten Kritiker Lukaschenkos, hält von der Maulwurftaktik der internationalen Gemeinschaft überhaupt nichts. „Von den vier Forderungen der OSZE ist keine einzige erfüllt. Das Regime hat sich nicht einen Zentimeter bewegt.“ Immer noch seien Oppositionelle spurlos verschwunden, gegen Demonstranten werde mit Gewalt vorgegangen. Aus dem Beschluss des Westens spreche Naivität und Hilflosigkeit. „Das Ergebnis der Konferenz ist ein Schlag für die Opposition“, sagt Schuschkewitsch. „Und was noch schlimmer ist: Der Westen erstickt damit den Wunsch vieler Weißrussen nach einer offenen Gesellschaft.“

Nun bröckelt auch noch die Boykottfront der Opposition. So haben unter anderem die Sozialdemokraten, deren Chef Mikola Statkewitsch noch vor einigen Monaten am lautesten einen Boykott forderte, ihren Vertretern freigestellt, zu kandidieren – dann jedoch als Unabhängige. Dabei steht wohl der fromme Wunsch Pate, eher von innen heraus noch Veränderungen bewirken zu können.

„Gerade dies hat die Opposition leider nicht geschafft: zu einem Kompromiss zu kommen. Und dieser Fehler ist nicht wieder gutzumachen. Die Parlamentswahlen hat die Opposition damit schon verspielt“, lästerte die unabhängige Zeitung Belorusskaja Delowaja Gaseta. „Kompromisslosigkeit ist gut bei Küchenschlachten und am Stammtisch. In Situationen wie unserer ist sie störend.“

Doch die Eigeninitiative einiger umtriebiger Oppositioneller hat ohnehin kaum Erfolgsaussichten. Denn vor einer Kandidatenaufstellung sind es oppositionsfeindlichen Wahlkommissionen, die die Anwärter registrieren müssen. Merkwürdigerweise fanden die Behörden ausgerechnet bei den Unterstützer-Unterschriften der Lukaschenko-Kritiker Grund zur Beanstandung. Auf diese Weise mussten der Chef des Kinderhilfsfonds Tschernobyl, Gennadi Gruschewoj, der Rechtsanwalt Harry Pogonjailo sowie der Menschenrechtler Oleg Wolschak schon vorzeitig aus dem Rennen. Die Betroffenen können die Entscheidung vor Gericht anfechten, doch dort sitzen ebenfalls Erfüllungsgehilfen des Staatspräsidenten.

Überdies arbeitet die Repressionsmaschinerie nach bewährter Manier und auf vollen Touren – Wahlkampf im wörtlichen Sinne. Personen, die als Mitglieder so genannter Initiativgruppen für einzelne oppositionelle Politiker Unterschriften zur Registrierung sammelten, wurden eingeschüchtert, unter Druck gesetzt und bei ihrer Arbeit behindert. Vertreter der OGP, die aktiv für einen Wahlboykott warben und Hausbesuche machten, bekamen hohe Geldsummen angeboten, wenn sie ihre Tätigkeit einstellten.

Eine Sonderausgabe der Zeitung Pabotschi, die dem Wahlboykott gewidmet war, wurde beschlagnahmt, der Chefredakteur des Blattes, Wiktor Iwaschkewitsch, vorübergehend verhaftet. Mehrere Personen, die in dieser Woche in Provinzstädten mit Slogans „Heute Milošević, morgen Lukaschenko!“ für einen Wahlboykott demonstrierten, wurden kurzzeitig festgenommen.

Das alles ist für Weißrusslands Regierung offenbar ganz demokratisch. „Die Macht hat für die Durchführung freier, demokratischer Parlamentswahlen alles ihr Mögliche getan“, sagte Alexander Abramowitsch, stellvertretender Chef des Präsidentenamtes, unlängst in einem Interview. Diese Fortschritte hätten auch die Vertreter der internationalen Gemeinschaft mit ihrem Beschluss, Beobachter ins Land zu schicken, anerkannt.

Vielleicht ist aber die Frage nach dem Charakter der Wahlen ohnehin bald Makulatur. Damit der erste Wahlgang gültig ist, müssen sich mindestens 50 Prozent der Wahlberechtigten beteiligen. Laut Umfrageergebnissen eines unabhängigen Minsker Forschungsinstituts waren Ende August noch zwei Drittel der Befragten unentschieden, ob sie an den Wahlen teilnehmen.

Würde das Quorum nicht erreicht, käme das Lukaschenko durchaus gelegen. Denn schon einmal konnte der Präsident ohne Volksvertretung regieren. 1995, ein Jahr nach seinem Machtantritt, gab es wegen der mangelnden Wahlbeteiligung über mehrere Monate hinweg kein funktionsfähiges Parlament. Nur gehörten damals die Boykotteure nicht zum Lager der Opposition. Die Bürger sollten lieber zu Hause bleiben und nicht zu den Wahlurnen gehen, hatte damals einer laut und vernehmlich mitgeteilt. Sein Name: Alexander Lukaschenko.

Zitate:OPPOSITIONELLER LEBEDKO:„Lukaschenko kann sich das Resultat so hinbiegen, wie er es braucht“

CHEF DER OSZE-MISSION:„Wenn wir jetzt aufgeben, geht das zu Gunsten des Systems aus“

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