: Noch Hader mit dem alten Kader
Krisenkomitees sollen in den serbischen Betrieben die Produktion ankurbeln und für Ordnung sorgen. Doch die Machtfrage ist nicht überall geklärtaus Belgrad GREGOR MAYER
Eine Woche nach dem Sturz des jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milošević tobt der Machtkampf nicht nur um die Führung des Landes, sondern auch in den Industriebetrieben.
Im Plaste-Kombinat „Grmec“ am nördlichen Rand von Belgrad brach er am Dienstag aus. Die Arbeiter versammelten sich im Hof des Hauptwerks, Emissäre des Wahlsiegers DOS (Demokratische Opposition Serbiens) trafen ein, Generaldirektor Rajko Uncanin, ein Funktionär der nun entmachteten Sozialistischen Partei Serbiens (SPS), wurde abgesetzt. Ein Krisenstab wurde gewählt, der dafür sorgen soll, dass die Produktion wieder aufgenommen wird und niemand etwas stiehlt.
Zwei Tage später gibt es für Journalisten keinen Zugang mehr. „Sie müssen verstehen“, meint der Sicherheitschef, „heute wird erstmals wieder produziert. Wenn Sie da als Reporter reingehen, lassen die Arbeiter, aufgewühlt wie sie sind, alles liegen und stehen, um mit Ihnen zu reden.“ Ein kleiderschrankgroßer, weißhaariger Funktionär der staatlichen Gewerkschaft erscheint: Nikola Djurdjić. „Ja, hier sind Provokateure mit gefälschten DOS-Dokumenten aufgetaucht“, gibt Djurdjić polternd und schwitzend zu Protokoll. „Das hat die Arbeiter verwirrt. In jedem Betrieb gibt es Problemfälle und Störenfriede. Die versuchen jetzt bei uns die Macht an sich zu reißen.“ Dann empfiehlt er sich zu einer Krisensitzung in die Unternehmenszentrale in der Innenstadt.
Nun holt der Sicherheitschef den 53-jährigen Maschinentechniker Bane Borić herbei. Dieser hält gegen die Worte des Staatsgewerkschafters: „Was heißt gefälschte Papiere, Problemfälle, Störenfriede?“, entrüstet er sich. „Ich bin in keiner Partei oder Gewerkschaft. Das ist hier alles ganz spontan gelaufen. Die Unzufriedenheit der Arbeiter über die Hungerlöhne und die miesen Arbeitsbedingungen hatte ihren Gipfel erreicht. Ich bin dazwischen getreten, als sie den Generaldirektor lynchen wollten.“ Weitere Streiks, sagt Bane Borić, würden nichts bringen. Die Politik müsse sich aus dem Betrieb raushalten.
Vom sozialistischen Establishement ist das Unternehmen schon vor Jahren in eine Pseudoaktiengesellschaft umgewandelt worden. Im Prinzip sind die Arbeiter die Aktionäre, doch in Wirklichkeit halten das Management und verlässliche Parteikader den Mehrheitsanteil. „Damit ist es jetzt vorbei“, sagt Borić. „Der Prozess, der in Gang gekommen ist, lässt sich nicht mehr umkehren.“ Die künftige Regierung wird, wie in Belgrad zu hören ist, die fragwürdigen, zum Teil kriminellen Privatisierungen der Milošević-Zeit rückgängig machen. Die Unternehmen werden einer Privatisierungsanstalt unterstellt, restrukturiert und international zum Verkauf ausgeschrieben.
„G 17 Plus“, eine Gruppe von Wirtschafts- und Politikexperten, die bei der Formierung des DOS-Bündnisses eine herausragende Rolle spielte, habe die entsprechenden Programme fertig in der Schublade liegen.
Doch die Bildung handlungsfähiger Regierungen für den jugoslawischen Bundesstaat und die dominierende Teilrepublik Serbien ist schwierig. Die SPS und Milošević-nahe Parteien wie die Radikalen (SRS) des Faschisten Vojislav Šešelj und die montenegrinische Sozialistische Volkspartei (SNP) haben wegen der Besonderheiten des jugoslawischen Wahlsystems und wegen des Umstands, dass das serbische Parlament nicht neu gewählt wurde, noch ihre Eisen im Feuer. Das serbische Parlament soll im Dezember neu gewählt werden, bis dahin eine All-Parteien-Übergangsregierung die Geschicke der Republik lenken. Die Verhandlungen darüber waren aber von SPS und SRS am Dienstag abgebrochen worden, offenbar ein letzter Versuch von Milošević-Getreuen, Verwirrung und Chaos zu erzeugen.
Inzwischen scheint sich die Lage etwas zu entspannen. Auf einer Sitzung der SPS-Spitze, offenbar ohne Milošević, wurde Generalsekretärin Gorica Gajević, eine fanatische Scharfmacherin, enge Vertraute von Milošević und eine der Hauptdrahtzieherinnen beim versuchten Wahlbetrug am 24. September, zum Rücktritt gezwungen. Das anschließende Kommuniqué sprach von der Notwendigkeit der „Wiederaufnahme des Dialogs“. SPS-Organisationen im serbischen Hinterland verlangten unterdessen auch den Rücktritt Milošević’ vom SPS-Vorsitz. Es ist ähnlich wie seinerzeit in der SED, als die Führungsgarnitur vor und nach dem Mauerfall abgestoßen wurde und die zweite Reihe die Transformation in die demokratiekompatible postkommunistische PDS einleitete.
In der SNP bewirkt das Revirement die Stärkung des gemäßigten Flügels um Predraq Bulatović, dem man den Posten des jugoslawischen Premiers anbieten wird. Die serbische Polizei wiederum, die im bisherigen Vakuum in gefährlicher Wartestellung verharrte, wird einer reformierten SPS genauso vertrauen wie der alten. Eine erneuerte SPS sollte nicht mehr versucht sein, die Sicherheitskräfte zu missbrauchen.
Zitat:AUS DEN BETRIEBEN:„Das ist hier alles ganz spontan gelaufen. Die Unzufriedenheit der Arbeiter über die Hungerlöhne hatte ihren Gipfel erreicht. Ich bin dazwischen getreten, als sie den Generaldirektor lynchen wollten“
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