: Die Fallen des Folklorismus
Ein Steinbruch des guten Geschmacks: Seit seiner Erstausgabe gilt der „Rough Guide World Music“ als Bibel des Genres. Nun ist die Neuauflage erschienen, ausgeweitet auf zwei Bände. Eine Rezension
von ULI LEMKE
Bibeln brauchen etwas länger. Schon auf der letzten WOMEX präsentierten die britischen Herausgeber um den Musikjournalisten Simon Broughton den ersten Band des neuen Rough Guide World Music, des unangefochtene Kompendiums für das Genre. Der zweite Band für Amerika, Asien und den Pazifik folgte jetzt.
Als 1994 in England die Urversion des Rough Guide World Music erschien und das Buch sich fast weltweit ganz ordentlich verkaufte, fielen auch die Kritiken von allen Seiten recht positiv aus. Ursprünglich der Titel einer Reiseführer-Reihe, gibt der Rough Guide inzwischen einer ganzen Serie von Musik-Nachschlagewerken seinen Namen, von Jazz über Klassik und Oper bis hin zu Reggae und Rock. Schon mit der ersten Weltmusik-Ausgabe machte der Rough Guide seinem Namen alle Ehre: Locker-flockig aufgemacht, brach das Werk mit allen Konventionen, die bis dahin galten, wenn es um die Beschreibung fremder Klänge ging. Vorbei die Zeiten, in denen sich Journalisten und Fans noch durch schwierige akademische Werke arbeiten mussten, die etwa „Populäre Musik in Afrika“ hießen, fußnotenstark aus wissenschaftlichen Instituten kamen, auf beiliegenden CDs schrebbelige Field Recordings boten und im Anhang mit Literaturhinweisen wucherten. Der Rough Guide bot einen groben Überblick der Musikszenen in den diversen Weltregionen, benannte bedeutende Traditionen, Einflüsse und Entwicklungen und bemühte sich um ein Auflistung der wichtigsten Instrumente, Stile und Künstler. Vollständigkeit war von vorneherein ausgeschlossen. Doch auch das wachsende Weltmusikangebot hat inzwischen viele Kapitel alt aussehen lassen. Zeit also für eine Generalüberholung. An der aktualisierten Neuauflage des Rough Guide waren nunmehr 80 Experten beteiligt. Im Ergebnis verdoppelte sich das Volumen der Erstausgabe, so dass der Weltmusikführer am Ende auf zwei Bände verteilt werden musste. Kaum noch ein weißer Fleck ist auf der Landkarte geblieben, auch Deutschland hat diesmal ein eigenes Kapitel bekommen.
An dem lässt sich übrigens exemplarisch nachvollziehen, wie schwierig die landestypische Kategorisierung sein kann, wenn sich die nationale Folklore im Großen und Ganzen auf Schlager, Musikantenstadl und ein paar Böhse Onkelz beläuft. Da muss man dann schon nach progressiven Geheimtipps suchen, alte Liedermacher ausgraben oder ein paar Dissidenten präsentieren, was auch völlig in Ordnung geht. Aber warum findet eine Ute Lemper mit ihren Eisler-Chansons Erwähnung? Warum dann nicht auch Rio Reiser, Stoppok oder der Söllner Hans? Das ist dann wieder bloß Rock ’n’ Roll. Dem Mann, der den Kubaboom losgetreten hat, ist ein eigenes Kapitel gewidmet, es trägt den hübschen Titel „The Ry Phenomenon“. In einem Interview bedauert der Gitarrist, dass in seiner Heimat, den USA, die Musik alle sozialen Bezüge verloren habe und nur noch Business sei. Nun mag man wie er bedauern, dass Hausmusik auf der Veranda out ist – allerdings drehen die Straßenkinder auch in Havanna und Bamako heute lieber an den Knöpfen von Ghettoblastern, als auf den Saiten von Tres, Gitarre oder Kora zu klimpern.
Zwischen diesen Positionen entscheiden sich die meisten Rough-Guide-Autoren für den Mittelweg: Man schätzt die regionalen Traditionen, hat aber auch gegen deren fortschreitende Modernisierung nichts einzuwenden – sofern diese selbstbestimmt ist. Auf fast 1.500 Seiten World Music fällt das Fazit erwartbar aus: Kritische Töne zu kommerzieller Lambada-Vermarktung und banalem Ethnokitsch aus dem Computer à la Deep Forest oder Enigma, dafür Sympathie für einen subversiven Weltenbummler wie Manu Chao oder den geschmackssicheren Globetrotter Ry Cooder. Dem Urteil schließt man sich gern an – allerdings entspricht diese Einschätzung auch der aktuellen Marktentwicklung. Leider reflektiert der Rough Guide diese inzwischen so sehr, dass er darüber hinaus manchmal vergisst, dass er ja eigentlich auch regionale Musikkulturen abbilden will. Gelegentlich verfällt er deswegen dem folkloristischen Anschein: So findet eine Natacha Atlas nur eine knappe Erwähnung im Englandkapitel, obwohl ihre Musik vor allem ein Produkt des musikalischen Meltingpots Londons ist. In Kairo tendiert ihre Bedeutung zwar gegen Null, trotzdem findet sie sich ausführlich im Ägyptenkapitel wieder. Gleiches gilt für andere Exilägypter wie Mahmoud Fadl und Salamat.
Immerhin erfährt der Leser trotzdem noch etwas über die gigantische Kassettenindustrie Ägyptens, die so geschleckte Pop-Stars wie den Schönling Amr Diab hervorbringt, und bekommt ein paar ethnomusikalisch korrekte Informationen über Sufi-Musik gereicht. Anderswo schlägt dagegen der leidige Snobismus des Puristen durch, der auf alles schimpft, was nicht traditionstreu, gut und künstlerisch wertvoll ist. Der Verfasser des Japanteils etwa ist sich nicht zu schade, die Mehrheit der populären Musik des Landes, das so bekannte Künstler wie Pizzicato Five und Ryuchu Sakamoto hervorgebracht hat, pauschal als „Bubblegum-Pop“ abzuqualifizieren.
Artenschutz für lokale Folklore zu fordern mag edel sein. Doch ob man sich nun an der nostalgischen Drömeligkeit des Buena Vista Social Club begeistert oder sich über gesampelte Pygmäengesänge freut, die für den Dancefloor fit gemacht werden p Tatsache ist, dass im Geschäft mit der Weltmusik inzwischen auch die fremdesten Töne für den hiesigen Geschmack aufbereitet werden. Und ob nun ein Ry Cooder für künstliche Patina sorgt oder irgendwelche anonymen Studio-schergen bessere Beats unterlegen – besonders „authentisch“ ist beides nicht. Dem Rough Guide ist das nicht anzulasten. Er spiegelt nur den Trend, und entscheidet sich im Zweifel für die geschmackvollere Produktion.
Broughton, Simon, Ellingham, Mark and Trillo, Richard (Ed.): „World Music. The Rough Guide. Volume 1: Africa, Europe and the Middle East“. 1999, 762 S., 17.99 (UK), 26,95 (USA)
Diess. (Ed.): „World Music. The Rough Guide. Volume 2: Latin and North America, Caribbean, India, Asia and Pacific“. 2000, 673 S., 17.99 (UK), 26.95 (USA)
Uli Lemke ist Chefredakteur des deutschsprachigen Weltmusik-Magazins „blue rhythm“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen