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Ruinierte Solidarität

Solidarität, das macht das Altbackene, aber auch Anheimelnde an ihr aus, ist ein gegen- individualistischer Begriff. Unter postmodernen Voraussetzungen ist er damit ruiniert. Die Frage ist nun, wie man angesichts eines solchen Ruins Remedur schaffen kann.

von PETER FUCHS

Solidarität, das ist ein verblichenes Zauberwort. Es schmeckt ein wenig altbacken, es schimmert ein bisschen wie angelaufenes Gold, es klingt ein wenig nach Sehnsucht, und es hat eine seltsame Magie, weil es ja keineswegs festlegt, mit wem man solidarisch zu sein hat und wen man eben deshalb aus der Solidarität entlassen muss.

Solidarität, das macht jenes Altbackene, Grünspanige und Anheimelnde an ihr aus, ist ein gegenindividualistischer Begriff. Er entzieht sich der Postmoderne, insofern er fordert, dass Individuen sich mit Kollektiven verschwistern sollen, Einzigartigkeiten mit Allgemeinheiten, Singularitäten mit nichtsingulären Aufgaben und Problemen. Solidarität setzt auf Einheit und Einigkeit und nicht auf die bedrohlichen Sabotagen der Differenz, denen sich die avancierte Kognition der Moderne kaum noch entziehen kann, es sei denn: um den Preis des Fundamentalismus.

Es ist deshalb gewiss kein Zufall, dass Großkundgebungen der Solidarität (Mahnwachen, Menschenketten, Rockkonzerte etc.) ironiefähig geworden sind und dass Menschen, die sich gern solidarisch aufführen, so seltsam bieder erscheinen.

Das Problem liegt auf der Hand: Der Begriff kann nur noch im Plural eingesetzt werden und diskriminiert sich damit selbst. Solidaritäten sind schließlich in der modernen Gesellschaft als standortgebundene Appelle blitzschnell erkennbar, als Konstruktionen, die nicht mehr auf einen Einheitssinn zurückgeführt werden können, sondern immer nur auf einen Spezialsinn, auf lokale Bedeutungen, auf kleinzeitige Beobachtungen. Das ist ja, wie man sagen könnte, wenn man zu Depressionen neigt, die Tragik der Moderne, dass sie sich nicht auf einen Sinn verständigen kann, sondern nur und immerfort fluktuierende Sinnmassen produziert, in denen jede Einschreibung besonderer Anliegen den Anlass für weitere Sinnaufspaltungen liefert, also das Getöse aufbläst.

Es ist vollkommen klar, dass wir nicht mehr über eine Sozialontologie verfügen, von der aus sich jeweils entscheiden ließe, wer mit wem und aus welchem Anlass solidarisch zu sein habe und wer nicht. Man kann es Schulkindern vielleicht noch weismachen, sie hätten sich durch freiwillige Arbeitstage, gegen die sie sich nicht wehren können, mit armen Kindern in der dritten Welt solidarisiert. Und nur sehr nette Leute können glauben, dass derjenige, der seine Lebenshaltung für einige Monate auf das Niveau der Sozialhilfe herunterschraubt, einen Akt der Solidarität vollzieht und nicht etwa einen kuriosen Zynismus vorführt, solange die Daueraufträge und Einzugsermächtigungen, Erbschaftsansprüche und Freundeskreise erhalten bleiben. Jede Solidarität ist unter den Auspizien der Moderne gegenbeobachtbar – Factum brutum est, so könnte man sagen, wenn man sich der schlotternden Furcht vor performativen Widersprüchen entschlüge.

Es ist leicht zu sehen, dass unter solchen Voraussetzungen der Begriff Solidarität ganz einfach ruiniert ist. Das kann man dann beklagen und für diese Klage wiederum Solidarität verlangen, aber eine andere Strategie wäre es, sich des Begriffs neu zu vergewissern, indem man Unterscheidungen aufgibt, in denen er bisher situiert war: Egoismus und Altruismus zum Beispiel, das Ganze und die dem Ganzen verpflichteten Teile, Gemeinsinn und Einzelsinn, und vor allem Gemeinschaft versus Gesellschaft. Die ganze Ideologie des Mehrwerts des Sozialen müsste aufgegeben werden, wie er in Wörtern wie Sozialpädagogik und Sozialarbeit noch immer überwintert oder gar bei der Beurteilung des Sozialverhaltens von Schulinsassen. Die Mythologie des sozialen Bandes wäre zu revidieren, in deren Kontext (auch in der Soziologie) sich die Emphase der Solidarität entwickeln konnte.

Die Frage ist, wie man angesichts eines solchen Ruins Remedur schaffen kann. Die Empfehlung der Systemtheorie wäre, diesen Versuch als Frage nach der Funktion von Solidarität aufzufassen. Was ist das Problem, das wir konstruieren könnten, um das Schema der Solidarität als eines seiner möglichen Lösungen aufzufassen? Was hat den Erfolg des Schemas begünstigt?

Verfährt man so, fällt als erstes auf, dass das Wort, das lange in juristischen und ökonomischen Kontexten dümpelte, seine moderne Karriere wesentlich im 19. Jahrhundert beginnt. Die solidarité humaine wird um die Mitte dieses Jahrhunderts zu einem moralischen Schlüsselbegriff, der nicht ohne Grund wie ein Ersatz für das christliche Gebot der Nächstenliebe wirkt. Renauds Buch „Solidarité“ (1842) wählt passende Adjektive: „La Solidarité est une chose juste et sainte . . .“ Sie sei gerecht und vor allem und nicht zufällig: heilig.

Was folgt, ist eine lange moralisch-normative Geschichte. Interessant ist, dass sie startet, als die Umstellung des Gesellschaftsystems sich von der ständischen Ordnung auf die so genannte funktionale Differenzierung vollzieht. Diese Umstellung bewirkt, dass diejenigen sozialen Ordnungsgarantien zerschlagen werden, die sich aus der Idee eines geordneten Kosmos speisten. Eine gleichsam selbstläufige, die Heilsgeschichte fortsetzende, weitgehend fraglos in Geltung befindliche Sozialordnung verliert ihre Überzeugungskraft. Der blinde Fleck, aus dem heraus die alte Ordnung ihre Evidenz entfaltete, wird plötzlich ausgeleuchtet. Alles ist anders möglich – die Götter sind tot.

Da Solidarität unter den Voraussetzungen derselben modernen Gesellschaft, der sie sich verdankt, gegenbeobachtbar wird, verwundert – wie im sehr ähnlichen Fall der Emanzipation – nicht ihre moralische Aufheizung. Die Gegenbeobachtung kann nicht mehr argumentativ (im Sinne der zwanglos zwingenden Argumente einer universalen Vernunft) blockiert werden. An diese Stelle tritt wie immer in solchen Fällen: Ausschluss der Gegenbeobachter, Einschluss der Gleichbeobachter, mithin Moral. Aber die Ausgeschlossenen können sich ihrerseits solidarisieren. Im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts ist Solidarität dann genauso wie die Moralen der Gesellschaft nur noch im Modus der Vielheit zu haben. Das Einklagen einer allgemeinen Solidarität für irgendetwas Allgemeines ist nun nichts als ein Anachronismus.

Eben deshalb residiert Solidarität sichtbar und hörbar nur mehr in den rhetorischen Figuren des Appellativen. Sie hat das Niveau erreicht, auf dem Solidarität mit Benzinpreisopfern verlangt wird – in Reden, die keinesfalls durch Referenz auf sachliche Komplexität imponieren.

Was der Ruin eines Begriffs übrig lässt, ist eine Ruine. Vielleicht ist nichts geblieben als eine wohlfeil verfügbare, moralisch konditionierte Verlautbarungstechnik, in der es um das Einklagen eines indirekten Beteiligtseins aus der Ferne zu gehen scheint – aus der paradoxen Situation einer betroffenen Nichtbetroffenheit. Die Massenmedien haben das ihre getan, Fernstensolidarität zu begünstigen – von hier bis in die fernsten Winkel der Erde und immer als Spektakel.

Vielleicht kann man aber auch, um Trost zu finden, das Wort im Sinne einer solidaritätsreicheren Zeit umfunktionieren und es als Ausdruck dafür nehmen, dass unter der Ägide des Hyperkapitalismus die wechselseitigen Ausnutzungsmöglichkeiten der Leute laufend kalibriert werden müssen. Die hoch entwickelten Teile der Gesellschaft wären dann solidus, wenn die Leute in ihrer Umwelt wissen (oder so verfahren, als ob sie es wüssten), dass das Nutzen von Ausnutzungsbereitschaften eine Grenznutzengrenze hat, jenseits derer das Chaos lauert. Solidarität wäre dann insgeheim: funktional. Sie würde nicht mehr moralisch dröhnen, sie wäre Teil des Teiles jener Kraft, die stets das Böse will und nur das Gute schafft.

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