: Wir und die Anderen
Wenn sich die Weltgesellschaft in der Nation, im Ort, im Wohnzimmer entfaltet, stellt sich die Frage nach der transnationalen Solidarität
von ULRICH BECK
Wir haben es in vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens mit Zombie-Begriffen zu tun. Dazu gehören auch die Begriffe der Solidarität und der sozialen Gerechtigkeit.
Es ist nicht schwer vorherzusagen, dass die Beerdigung dieser Ideen unter ihrer allgemeinen Beschwörung vonstatten gehen wird. Je mehr sich die Parteien zum Verwechseln ähneln, zu eineiigen Zwillingen dessen werden, was sowieso geschieht, je mehr also an die Stelle der untergegangenen Sozialistischen Einheitspartei des Ostens die Kapitalistische Einheitspartei des Westens tritt – egal, ob diese nun als New Labour Conservatives, Dritter Weg oder SPDU firmiert, desto wortgewaltiger und vielfarbiger werden alle das Logo „soziale Gerechtigkeit“ als Gütesiegel auf ihr Parteiprogramm drucken.
Aber was bedeuten „Solidarität“ und „soziale Gerechtigkeit“ in einer Welt, in der ein Fünftel reich und vier Fünftel arm sind? Und es darüber hinaus in Rechnung zu stellen gilt, dass es nicht nur um diese nun wirklich dramatische Verarmung der überwältigenden Mehrheit der Weltgesellschaft geht, sondern auch darum, dass das materielle Elend durch den Verlust der eigenen öffentlichen Stimme vervielfacht wird.
Brechts Wort „doch die im Dunkeln sieht man nicht“ zielt ja auf diese doppelte Verhöhnung einer öffentlichen Nichtgegenwart der Weltmehrheit stimm- und stimmenloser Armer, die übrigens meistens auch dunkelhäutig sind und denen soziale Gerechtigkeit höchstens in der Almosenform von Spenden bei Großkatastrophen zuteil wird.
In dieser Welt von „sozialer Gerechtigkeit“ als „Chancengleichheit“ zu faseln, die nun leider einmal – wir sind so realistisch – Ungleichheit als Ergebnis hinzunehmen zwingt, und dies auch noch als „Modernisierung“ zu verkaufen, ist blanker Opportunismus, macht Orwells New Speak alle Ehre. Es käme darauf an, diesem politisch-methodischen Nationalismus, der ganz ungebrochen Solidarität und soziale Gerechtigkeit immer noch ausschließlich unter Gleichen denkt, wenigstens die Frage entgegenzuhalten: Was heißt Solidarität, was heißt Gerechtigkeit, die „Fremde“ nicht ausgrenzt, sondern einschließt? Was also heißt transnationale Gerechtigkeit, etwa in einem kosmopolitischen Europa, in dem wir uns ja schon längst bewegen, auch wenn es wenig kosmopolitisch ausgerichtet ist?
Angesichts einer solchen globalen Armut sehen die bisher kursierenden Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit, auch die Gerechtigkeitsphilosophie eines John Rawls, ziemlich alt aus. Viele glauben, dass mit der Radikalisierung sozialer Ungleichheiten im Weltmaßstab der Klassenbegriff eine Renaissance erfahren wird: Muss man nicht sagen, hier wächst ein neues Subjekt der Weltrevolution heran?
Doch das marxistische Argument, dass die Arbeiter keine Nation kennen, muss heute umgedreht werden: Es sind die Aktivisten des Kapitals, die Globalisierung zum Beruf gemacht haben, die kein Vaterland kennen, während die Arbeiter und Arbeiterbewegungen, die Gewerkschaften „ihren“ Staat zu Hilfe rufen, damit er sie gegen die Unbill der Globalisierung schützt. Die Globalisierer handeln in einem transnationalen Bezugsrahmen, in dem schon die Frage: Welchen Arbeitern, welchen Armen sind wir verantwortlich, in welchem Land?, schwer zu beantworten ist. Früher oder später wird die Frage, in welchem Bezugsrahmen Verteilungskämpfe organisiert werden sollen – in einem nationalen, in einem transnationalen, und wenn, in welchem? –, selbst zum Gegenstand solcher entterritorialisierter Nicht-Klassenkämpfe werden. Nein, der erneute Gebrauch des Klassenbegriffs in Zeiten weltweit radikalisierter Ungleichheiten verdeckt den Zusammenbruch der nationalstaatlichen Klassenontologie.
Nationalität schließt den nationalen Anderen aus, Transnationalität schließt den nationalen Anderen ein – als persönliche Erfahrung eines grenzenübergreifenden Zusammenhanges und als Prinzip der politischen Philosophie. Transnationalität verweist auf eine hinter den Fassaden des nationalen Gesellschaftsbehälters sich vollziehende Revolution der Loyalitäten: Viele Menschen handeln international, lieben international, heiraten international, forschen international, ziehen ihre Kinder international auf. Diese wiederum sprechen mehrere Sprachen oder finden sich wundervoll im Nowhere des Internets und des Fernsehens zurecht. Das heißt, die alte Vorstellung, die den Nationalstaat ausgemacht hat, dass er ein abgeschlossener sozialer Raum ist, in dem mehr oder weniger homogene Gruppen politisch zusammenleben, verwaltet und motiviert werden, damit sie gegebenenfalls den Anderen jenseits der Grenze totschlagen – diese Vorstellung zerbricht von innen her.
Wer die Frage nach der transnationalen Gerechtigkeit stellt, kann also bei der inneren Transnationalisierung des nationalstaatlichen Machtbehälters anfangen und untersuchen, wie sich die Weltgesellschaft in der Nation, in der Region, im Ort, in den Metropolen, ja selbst im Wohnzimmer entfaltet, wo via Fernsehen die Katastrophen aus aller Welt ein- und ausmarschieren.
Damit müssen Fragen aufgeworfen werden, wie sie Elisabeth Beck-Gernsheim in ihrem Buch „Juden, Deutsche und andere Erinnerungslandschaften“ untersucht: Wie viele Menschen heiraten in Deutschland, Großbritannien, Frankreich usw. Ausländer? Welcher Nationalitäten? Wie viele Kinder wachsen unter binationalen Bedingungen auf? Wie viele Sprachen werden gesprochen? Wie hoch ist der Anteil der Arbeitenden, die als aktuelle oder potenzielle Globalisierungsgewinner oder Globalisierungsverlierer angesehen werden können? Dann wäre es interessant herauszufinden, wie kunterbunt oder ethnisch homogen und öde nach wie vor die Schlüsselinstitutionen in ihren Mitgliedschaften oder Vorständen besetzt sind – von der Polizei über die Parteien, Schulen, Universitäten bis zu den Gerichten und Regierungen. Nähert sich das Erscheinungsbild hier dem der französischen Fußball-Weltmeistermannschaft an, oder gilt nach wie vor der Primat ethnisch-nationaler Homogenität?
Einem gängigen Stereotyp nach leben nur die Globalisierungseliten jene neue Transnationalität. Aber das ist falsch. Gerade auch die armen und tatsächlich oft ausgeschlossenen Migranten müssen die kulturellen und nationalen Gegensätze in ihrem eigenen Lebenszusammenhang aushalten und überbrücken. Sie werden in den Ländern des Westens als „exkludierte Andere“ behandelt.
Aber als Filipinos in den USA, Chinesen in Indonesien, Türken in Deutschland finanzieren sie zugleich ihre Familienhaushalte „zu Hause“ mit, engagieren sich dort in kommunalen Projekten oder protestieren gegen korrupte Regime. Auch sie leben das transnationale Leben des doppelten Präferenzrahmens, also zugleich und miteinander vermittelt hier wie dort, und sehen sich jeweils in sich widersprechende und doch ergänzende Bezugsrahmen sozialer Solidarität und Ungleichheit positioniert.
Wir leben in einer gefährlichen, historischen Situation, in der die innere Transnationalisierung der Lebenszusammenhänge auf nationalstaatliche Institutionen und ethnisch-nationale Bewusstseinsformen trifft.
Die Schlüsselfrage ist: Wächst das Verlangen, aus der Ortsmonogamie der althergebrachten territorial gebundenen Gesellschaft auszubrechen und mehrere Orte, mehrere Kulturen zugleich zu lieben und dies wiederum auch folgenreich in die politische Debatte einzubringen? Oder wird die erfahrbare innere Globalisierung zum Schreckgespenst, das dann in den Köpfen der Menschen herumspukt?
Oder findet vielleicht sogar beides zugleich statt? Wie also reagiert die Bevölkerung in ihrem Selbstverständnis, in den öffentlichen Debatten, in den Institutionen auf den Einzug der inneren Weltgesellschaft in unsere Lebenszusammenhänge?
Vielleicht sollten wir die Unterscheidung der Kantschen Aufklärung zwischen Kosmopolitismus und Nationalismus einer „rettenden Kritik“ (Walter Benjamin) unterziehen. Die europäische Frage heißt sowieso: Wie wird das Leben in mehreren Nationen möglich? Wie wird eine innere Kosmopolitisierung des Nationalen und des Staates möglich?
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