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Freiflug wohin?

Aachener Friedenspreisträger vor der Abschiebung. Grass kritisiert barbarische Behördenpraxis in NRW

KÖLN taz ■ Der Aachener Bischof Heinrich Mussinghof wünschte sich am Sonntag bei der Feststunde anlässlich seines sechzigsten Geburtstags ein besonderes Geschenk: „Ich bitte die Verantwortlichen, die Abschiebung des Kurden Hüseyin Calhan zu verhindern.“ Ob sein Wunsch in Erfüllung geht, könnte sich heute entscheiden. Denn für heute ist ein Platz für Calhan in einer Charter-Maschine vom Flughafen Düsseldorf in die Türkei gebucht.

Mit einem „politischen Nachtgebet“ protestierten in der Nacht von gestern auf heute Bürger vor dem Gefängnis in Büren gegen die geplante Abschiebung Calhans. Zu der Protestaktion aufgerufen hatten zahlreiche Politiker, Künstler und antirassistische Initiativen, unter ihnen auch der Literaturnobelpreisträger Günter Grass. „Wer den ,Aufstand der Anständigen‘ für sich in Anspruch nimmt, muss zuerst die Opfer der eigenen Politik in den Blick nehmen“, fordern sie in einer gemeinsamen Erklärung. Jedes Jahr schiebe die Bundesrepublik mehr als 35.000 Menschen in Länder ab, aus denen die meisten von ihnen vor Hunger, Krieg und Verfolgung geflohen seien. Gerade im rot-grün regierten Nordrhein-Westfalen gebe es eine „barbarische Abschiebepraxis“.

In einem offenen Brief fordern auch sechs grüne und PDS-Bundestagsabgeordnete aus NRW, unter ihnen die parlamentarische Staatssekretärin Christa Nickels, von der Landesregierung, die drohende Abschiebung Calhans zu verhindern: „Wer glaubhaft gegen Rechtsextremismus eintreten will, darf nicht in die Folter abschieben.“

Der 27-jährige Hüseyin Calhan ist einer der exponiertesten Vertreter des Wanderkirchenasyls. In den vergangenen Jahren trat der Träger des Aachener Friedenspreises immer wieder öffentlich als dessen Sprecher auf.

Seit 1995 lebt Calhan in der Bundesrepublik. Sein Asylantrag wurde abgelehnt, da ihm die Behörden nicht glaubten, dass er in der Türkei als PKK-Sympathisant verfolgt und misshandelt worden ist. Ende September wurde er in Aachen festgenommen. Seitdem sitzt Calhan in Abschiebehaft. Trotz mehrerer anderslautender psychiatrischer Gutachten bescheinigte ihm ein Amtsarzt die Reisefähigkeit. Den Einspruch gegen diese Beurteilung und eine erneute Untersuchung des Flüchtlings durch einen Facharzt lehnte das Düsseldorfer Verwaltungsgericht am Montag ab.

Vor einer Woche war der Sprecher der Wuppertaler Wanderkirchenasylgruppe, Mehmet Kilic, in die Türkei abgeschoben worden. Laut Aussagen von Verwandten und des Türkischen Menschenrechtsvereins IHD ist sein Verbleib dort bis heute ungeklärt. PASCAL BEUCKER

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