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Das Mobile der Zahlen

Polnisches Ratespiel: Wie viele der zwei Millionen Bauernhöfe sind auch solche im Sinne der Europäischen Union? Und wann darf Polen dann beitreten?

aus Warschau DANIELA WEINGÄRTNER

Spätestens nach dem fünften Trinkspruch änderte sich Jan Maczewskis Blick auf Brüssel. Gemeinsam mit anderen Honoratioren und Bauern der Woiwodschaft Masowien hatte er den Besuch von zwölf EU-Journalisten sorgfältig vorbereitet. Polens Image soll aufpoliert werden. Die polnische Regierung hat dafür eine millionenschwere Kampagne gestartet. Die Fahrt ins Warschauer Hinterland führte an bescheidenen, aber schmucken Anwesen vorbei. Nirgendwo quälte sich ein ausgemergeltes Pferd hinter dem Pflug.

Dreimal bog der riesige Warschauer Bus schwankend in holperige Höfe ein. Hunde bellten das Raumschiff an. Stallgassen waren gefegt und Milchkübel geschrubbt worden. Die Bäuerinnen trugen frisch ondulierte Rothaar-Frisuren und ein Lächeln, in dem die Anspannung und die zusätzliche Arbeit steckte. Im genossenschaftlichen Ausbildungs- und Beratungszentrum bog sich der Tisch unter den Köstlichkeiten aus der Region. Auf Marek Kwiatkowskis Obstplantage gab es Kaffee, Teilchen, dazu Selbstgebrannten. Bei der Weiterfahrt duftete der ganze Bus nach den Äpfeln im Kofferraum.

Typischer Brüsseler Schlendrian

Die Journalisten waren mit der Erwartung gekommen, einen kleinen Einblick in den Zustand von Polens Landwirtschaft zu erhalten. Um das Thema rankt sich schließlich ein ganzes Mobile von Zahlen – bewegt sich eine davon, wackeln auch die anderen: Wenn für zwei Millionen landwirtschaftliche Betriebe am Tag des Beitritts die gleichen Subventionen fällig werden, wie sie bislang in der Union rechtens sind, steht dafür in der EU-Finanzplanung bis 2006 kein Geld zur Verfügung – Polen kann also nicht vor 2007 in die Union aufgenommen werden. Wenn aber von diesen zwei Millionen Höfen nur 700.000 für den Markt produzieren, die übrigen als Nebenerwerbsbetriebe gar nicht mitzählen, könnte Polen vielleicht schon früher beitreten.

Wenn es das dann noch möchte. Natürlich blieb Jan Maczewski herzlich bis zum Ende, bis der letzte dieser merkwürdigen Besucher in den Bus gestiegen und winkend gen Warschau gefahren war. Aber sein ursprünglich angestrengtes Bemühen, den Fremden aus Westeuropa zu gefallen, war zu diesem Zeitpunkt längst amüsierter Gelassenheit gewichen. Denn die blassen Aktentaschenträger aus Europas Metropole verstehen nicht zu feiern, das konnte keiner übersehen.

Schon beim Mittagessen hatten die Gäste mehr gepickt als zugelangt. Bei Kwiatkowskis hielten sie sich an ihren Kaffeetassen fest und schrieben wie besessen ihre Blöcke voll. Natürlich küsste Maczewski der Gastgeberin die Hand und dankte für all ihre Mühen – aber keiner der Herren aus der so genannten westlichen Zivilisation tat es ihm nach. Immerhin raffte sich der spanische Korrespondent nach drei polnischen Trinksprüchen zu einer kleinen Erwiderung auf. Vieles erinnere ihn hier an sein eigenes Land. Auch Polen mit seinen 40 Millionen Einwohnern werde demnächst zu den mittelgroßen EU-Staaten gehören. Er hoffe aber, dass es nicht wie Spanien sieben Jahre würde verhandeln müssen, bis die Tür zur EU aufgehe.

Die Gastgeber applaudierten begeistert. Dabei wartet Polen nach eigener Zeitrechnung schon elf Jahre. Seit der Eiserne Vorhang gefallen ist, steuert das Land entschlossen auf die Union zu. Vielleicht ist das der Grund, dass in Gesprächen mit Politikern und Intellektuellen in Warschau oft der Eindruck entsteht, man spreche nicht mit Beitrittskandidaten, sondern mit Vertretern eines Mitgliedslands, dem wegen eines Formfehlers oder des typischen Brüsseler Schlendrians sein rechtmäßiger Status versehentlich vorenthalten wird.

„Wir können auch über die Lebensmittelvorschriften für Jogurt diskutieren“, diktiert ein sehr gelassener, sehr humorvoller Staatspräsident Kwaśniewski den zwölf Journalisten in ihre Blöcke. „Ich mag Jogurt. Aber als Präsident interessiert er mich doch weniger als die politische Entwicklung meines Landes und die Vision von Europa im nächsten Jahrhundert.“

Beides, daran lässt auch Außenminister Bartoszewski keinen Zweifel, hängt sehr eng zusammen. Der heute 78-Jährige hat sich schon in den Jahren des Exils am politischen Diskurs über Europas zukünftigen Weg beteiligt. Dass er damals als Professor in München womöglich mehr Gehör in der europäischen Öffentlichkeit fand als heute in der Rolle des polnischen Außenministers, erbittert ihn. Schon bei den Verhandlungen zum Amsterdamer Vertrag habe Polen seine beratende Stimme angeboten. Das sei damals genauso abgelehnt worden wie jetzt wieder bei den Vorbereitungen für die Reform von Nizza. „Das ist die letzte Regierungskonferenz ohne uns“, sagt der sonst stets verschmitzt lächelnde alte Herr mit scharfer Stimme und großem Ernst.

Anlass genug für ein weiteres Zahlenspiel: Schon 2004 soll nach den Überlegungen vieler EU-Chefs die nächste Reformkonferenz abgeschlossen, das Flickwerk von Nizza endlich zu einem funktionstüchtigen Ganzen zusammengeführt werden. Wollte Polen in diesen Diskussionsprozess tatsächlich einsteigen, müsste es am 1. Januar 2003 in die EU aufgenommen werden. Oder vielleicht doch erst 2005? „Unter Freunden streitet man nicht um 24 Monate“, sagt Bartoszewski. Und dann ist das Lächeln endlich wieder da, als er hinzufügt: „Andererseits ist es nicht nett, Freunde 24 Monate warten zu lassen.“

Auch Jan Kulakowski, Polens Chefunterhändler bei den Beitrittsgesprächen, fände es an der Zeit, über seine Meinung zu den Reformen befragt zu werden. Schließlich hat er mehr als fünfzig Jahre in Brüssel gelebt und dort als Botschafter Polens bei der EU von 1990 bis 1996 mit den meisten EU-Entscheidungsträgern enge Kontakte gepflegt. Wie Bartoszewski hat auch er seine Gedanken zu Fischers Europavisionen und Chiracs Bundestagsrede schriftlich festgehalten. Auf viel Interesse sei er damit nicht gestoßen. Einmal immerhin sei Polen nach seiner Meinung zur EU-Reform gefragt worden. Von den Portugiesen während ihrer Präsidentschaft – das ist nun auch schon ein paar Monate her.

Piotr Nowina-Konopka, Ex-Staatssekretär im Ministerium für Europäische Integration und heute Leiter des Warschauer Zweigs vom Europakolleg Brügge, packt die Enttäuschung seiner Landsleute über die fehlende Gesprächsbereitschaft der EU in ein treffendes Bild: „Natürlich entscheidet am Ende die Hausherrin. Aber wenn neue Mieter einziehen, empfiehlt es sich vielleicht doch, sie nach ihren Vorlieben bei der Farbe der Kacheln zu fragen.“

So oder so – daran lässt keiner der Gesprächspartner in Warschau Zweifel aufkommen – wird das Haus Europa nach Polens Beitritt ein weiteres Mal umgebaut werden. Schade nur, meint Aleksander Smolnar, der die Batory-Stiftung zur Förderung der Zivilgesellschaft leitet, dass das Zusammenfinden der Kulturen derzeit zum Prüfungsmarathon pervertiert sei.

Angst vor der politischen Grauzone

Tatsächlich hilft die Reise an die Weichsel, die Brüsseler Zahlenspiele für eine Weile zu vergessen. Am dritten Tag wird in ein Gebäude geführt, wo während des Warschauer Aufstandes 1944 die illegalen Flugblätter gedruckt wurden. Im Postkartenständer vor dem Haus steckt eine Luftaufnahme von Warschau, wie die abziehenden Nazitruppen es hinterließen: ein flaches Feld aus Schutt und Trümmern. 400.000 Menschen seien damals umgekommen, die russischen Truppen hätten auf der anderen Seite der Weichsel gewartet, bis alles vorbei war, erklärt die polnische Dolmetscherin.

Warum die Rote Armee nicht kam, als die Stadt noch stand? Die meisten aus der Journalistengruppe wissen es nicht. Die Aufständischen in Warschau standen in engem Kontakt mit der polnischen Exilregierung in London. Russland wollte keinen selbstbewussten und gleichberechtigten Verhandlungspartner, sondern ein am Boden liegendes Land, das leicht zu schlucken wäre.

„Wenn wir nicht in der Europäischen Union sind, leben wir an der Peripherie, in einer Grauzone“, hatte Aleksander Kwaśniewski am Tag davor gesagt. Wer die Luftaufnahmen von Warschau 1944 gesehen hat, versteht besser, warum es sich in dieser Grauzone ungemütlich lebt. Versteht vielleicht auch besser, warum der Osten aus polnischer Perspektive erst östlich von Polen anfängt. Warum die Menschen hier sich als Brückenbauer, als Mittler zwischen dem Westen und ihren Nachbarn in der Ukraine und der Slowakei begreifen.

Nachvollziehen konnte das zu Beginn der Reise nur der österreichische Journalist, dessen Großvater – ungarischer Abstammung – Bürgermeister in einem Dorf an der Grenze gewesen war. Er erkannte nicht nur die Speisen aus seiner Heimat auf den Tischen der polnischen Bauern, er wusste auch, wie es sich anfühlt, im west-östlichen Grenzland zu leben.

Außenminister Bartoszewski hatte zwar, als er nach seiner Meinung zu Österreich gefragt wurde, an Land und Leuten kein gutes Haar gelassen: „Wir haben in den anderen Ländern keine Partei, die Polen pauschal beschimpft. Nicht einmal Le Pen tut das.“ Vielleicht aber hätte er die Österreicher etwas milder beurteilt, wenn er den jungen österreichischen Journalisten im Wohnzimmer der Bauersfamilie hätte beobachten können, die bei der Landpartie als letzte auf dem Programm stand.

Man hatte die süßen kleinen Schweinchen bewundert und die schwarzbunten Kühe besichtigt. Man hatte Ertragsmengen und Literpreise eifrig notiert. Man hatte untereinander leise Vermutungen angestellt, wie lange ein solcher Hof unter EU-Reglement überleben würde. Dann aber wurden die Journalisten, die Reisebegleiter und die Honoratioren der Region in das winzige Wohnzimmer komplimentiert. Den Gästen aus dem Westen war klar, dass sie Schweinewürstchen, Sauerkraut und Schnaps auch diesmal nicht die gebührende Ehre erweisen würden. Jan Maczewski brachte einen letzten Toast auf Europa aus – die Hoffnung auf Antwort hatte er wohl schon begraben.

Da brachte die Bäuerin zwei große Platten mit Apfelstrudel herein. Der österreichische Journalist hob sein Glas und setzte an zu einem historischen Bilderbogen, der beim Apfelstrudel seiner ungarischen Großmutter begann, Polens und Österreichs gemeinsame europäische Vergangenheit streifte und schließlich mit der Bitte endete, ein Stückchen davon für den Heimweg mitnehmen zu dürfen. Jubelnder Applaus der Gastgeber. Der ganze Strudel wurde für die Rückfahrt verpackt. Der polnisch-europäische Dialog war für diesmal gerettet.

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