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Goethes „Faust“ gegen Comics getauscht

Was wir wissen müssen (Teil 2): Den Bildungskanon gibt es nicht mehr. Er ist zusammen mit Latein, dem Fundament der Bildung, untergegangen

Man spricht wieder über den Literaturkanon, den von der Furie des Verschwindens hinweggerafften. Hier aber soll von einem viel weiteren Felde die Rede sein, vom Kanon der Bildung, von jener repräsentativen Auswahl aus der unendlichen Vielfalt möglichen Wissens, zu der außer der Literatur die Philosophie, die Kunst, die Geschichte und manches andere gehört haben.

Die Bildung war eine Erfindung der Bourgeoisie, sie war ihr Leistungsausweis, mit dem sie sich dem Adel gegenüber behauptete. Sie machte den gehobenen Mittelstand in der europäischen Kultur heimisch. Neun Jahre Drill auf dem Gymnasium, vor allem am hohen Reck der alten Sprachen, ferner der Besuch von Konzerten, Schauspielen und Museen, und nach dem Abitur vielleicht eine Italienreise – so etwa verlief im 19. Jahrhundert und auch noch zu Beginn des 20. die Jugend all derer, die einmal akademische Berufe ausüben oder maßgebliche Posten in der Staatsverwaltung bekleiden würden. Der Erfolg: Sie verstanden sowohl zu studieren als auch mit ihrer Freizeit umzugehen. Und sie verfügten allesamt über dasselbe Repertoire von Begriffen, Vorstellungen und Bildern, so dass sie sich miteinander verständigen konnten, ob sie nun Ärzte, Juristen oder Ingenieure, Franzosen, Engländer oder Deutsche, Konservative, Liberale oder Sozialisten waren.

Dieses schöne System hat allerdings die Weltkriege nicht verhindern können, und so ging in ihnen und durch sie mit dem Bürgertum selbst auch das institutionelle Rückgrat der bürgerlichen Bildung, das humanistische Gymnasium, zugrunde. Geblieben ist die Kunst-, Schau- und Unterhaltungsseite, sind die Theater, Orchester und Museen. Doch auch dort hapert es bereits: Das Publikum bleibt aus, und es muss vieles von dem erklärt werden, was sich früher von selbst verstand. Geblieben sind weiterhin die Universitätsdisziplinen, die einst die Multiplikatoren der Allgemeinbildung, die Gymnasiallehrer, ausbildeten: als „Orchideenfächer“, die einsamer Forschung nachgehen.

Dies gilt zum Beispiel für die Latinistik. Europa war seit je und ist noch stets eine kulturelle Einheit, und zu den europäischen Gemeinsamkeiten gehörte seit Karl dem Großen die Kenntnis des Lateinischen als Fundament der Bildung. In dem nunmehr beginnenden Jahrhundert wird, wenn die Zeichen der Zeit nicht trügen, das Lateinische nur noch einer Handvoll von Wissenschaftlern vertraut sein. Ist ein Europa ohne Latein noch mit sich selbst identisch?

Man mag dies bejahen, fragt sich dann aber, wie es wohl mit einem Deutschland ohne Deutsch bestellt wäre. Es mangelt nicht an Indizien für einen massiven Sprachverfall. Und historische Analogien für einen radikalen Wandel ließen sich auch leicht nennen: Aus dem Lateinischen gingen im siebten und achten Jahrhundert die romanischen Sprachen hervor, und das Englische mutierte nach 1066 aus einer rein germanischen Sprache in das seit dem 13. Jahrhundert existierende germanisch-romanische Gemisch. Als Regel gilt, dass sich das Sprachveränderungstempo vervielfacht, wenn es an der stabilisierenden Kraft der Schule und an einer intensiven Schreib-, Lese- und Redekultur fehlt.

Für all dies hat bis vor wenigen Jahrzehnten der Kanon der bürgerlichen Bildung, hat insbesondere das Übersetzen aus anderen Sprachen, jene permanente Plage des Gmynasiums, gesorgt. Nichts übt so sehr in der Verfügung über die Muttersprache wie der Zwang, anspruchsvolle fremdsprachliche Texte in ihr wiederzugeben.

Heutzutage scheint vieles im Rückgang begriffen zu sein, was früher von jedermann praktiziert wurde. Man schreibt keine Briefe mehr, sondern telefoniert; man liest nicht mehr, sondern folgt dem Fernsehprogramm. Die aber, die in den Medien auftreten und den Millionen der Zuschauer und Zuhörer als Vorbild dienen, sind großenteils nicht mehr am Sprachgebrauch der Klassiker geschult: Ihre Syntax ist abgehackt, ihr Vokabular eingeschränkt und im Übermaß von Amerikanismen durchsetzt.

Armes Deutschland? Vielleicht ein Beispiel für „Hans im Glück“: Man hat sich von Goethes „Faust“ zum Sprechblasencomic heruntergetauscht.

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