siamesische zwillinge: Geteiltes Recht auf Leben
Operation gelungen – Patient tot. Bislang war das ein müder Medizinerwitz. Nach dem stundenlangen Eingriff, bei dem ein 20-köpfiges britisches Team die siamesischen Zwillinge Mary und Jodie voneinander getrennt hat, ist es eine nüchterne Nachricht: Mary ist von Montag auf Dienstag gestorben. Die Ärzte waren der Auffassung, dass Jodie nur so überleben kann. Die Geschichte der Zwillinge ist von nun an Jodies Geschichte – und die nächsten Kapitel werden von den Chirurgen geschrieben, die den gesamten Unterleib des Babys neu konstruieren.
Kommentarvon OLIVER TOLMEIN
In Großbritannien haben die Medien schon im Vorfeld fasziniert über die technischen Aspekte dieses Eingriffs berichtet. Und er passt in sein Umfeld, in dem die Biowissenschaft alles möglich zu machen scheint: In Großbritanien wurden die ersten In-vitro-Babys gezeugt, hier wurde das Schaf Dolly geklont, die Präimplantationsdiagnostik boomt, und die Lord-Richter entschieden, den Wachkoma-Patienten Anthony Bland verhungern zu lassen – durch Abbruch der künstlichen Ernährung. Für diesen Abschnitt der Geschichte bleibt daher zu hoffen, dass die Ärzte nicht nur ehrgeizig versucht haben, Jodies Körper an die Normalität anzupassen, sondern ihm auch seine Eigenheiten zu lassen.
Es gibt aber eine zweite Geschichte: Die Operation fand vor allem gegen die Interessen von Mary statt. Der Eingriff wurde möglich durch ein juristisches Verfahren, das Bedeutung über den Fall hinaus hat: Wie werden die Interessen von Menschen mit Behinderungen vertreten, die nicht für sich sprechen können?
Die Entscheidung des Londoner High Court, Marys Leben preiszugeben, wurde rechtskräftig, obwohl eine Berufung möglich gewesen wäre. Doch die Eltern hatten keine Kraft mehr, und der Official Solicitor wollte das Verfahren nicht weiter betreiben. Fälle, in denen sich die offiziellen Betreuer gegen das Lebensrecht eines einwilligungsunfähigen Menschen entscheiden oder dieses Recht nicht aktiv verfolgen, hat es auch in den USA und in Deutschland schon gegeben.
Es ist daher kein Zufall, dass Behinderteninitiativen am entschiedensten gegen die Operation der Zwillinge waren. Die geltenden Verfahrensregeln, das wird in der Bioethikdebatte immer deutlicher, können die Spannung nicht mehr ausgleichen zwischen denen, die die Gesellschaft der „Fitten“ und „Normalen“ bilden, und denen, die in diesem Raster keinen Platz finden oder finden wollen.
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