: Bunter Zwölfminutenwald
■ Philosophie steht hier noch nicht auf dem Stundenplan für Grundschüler / Was in Brandenburg längst Sitte ist, wird in Oldenburg im Rahmen der Buchmesse probiert
„Ist das ein Wald?“ Hans-Joachim Müller gibt zu, dass die Frage etwas seltsam ist. Der Grundschullehrer hat Blätter, Kastanien und Tannenzweige auf dem Boden des Seminarraums ausgebreitet. Dennoch grübeln 15 Kinder, alle zwischen sechs und elf Jahre alt, ernsthaft über seine Frage nach. Und nach langem Schweigen antwortet schließlich Fenja: „Nein,“ sagt sie bestimmt. „Es fehlen Dinge. Bei den Blättern fehlen die Bäume. Und bei der Rinde fehlt der Stamm.“ Sie reicht die Kastanie – den Sprechstein – weiter, die festlegt, wer gerade das Wort hat. Und auch die Anderen finden gute Gründe, warum es sich bei den Baumstücken nicht um einen Wald handeln kann.
Hans-Joachim Müller philosophiert seit vier Jahren mit seinen Schülern in der Grundschule. Anstoß war die kritische Auseinandersetzung mit dem eigenen Unterricht. Nicht nur auf das Lehren wollte er sich beschränken, „sondern auch mal leeren, was in den Kinderköpfen schon drin ist. Die kommen ja nicht als Neugeborene zur Schule.“ Beim Philosophieren werden die Kinder mit ihren Erfahrungen ernst genommen. Sie bekommen kein fertiges Wissen serviert, sondern werden angeleitet, selbständig zu denken, Dinge zu hinterfragen und Zweifel zuzulassen. Dazu gehört auch, die Gedanken der anderen zu respektieren und gemeinsam nach Lösungen zu suchen.
Forschungsgemeinschaft im Klassenzimmer heißt das in den USA. Dort wurde schon in den 70er Jahren mit Kindern philosophiert. In Deutschland beschäftigt sich dagegen der Philosophenverband erst seit kurzem mit der ganz frühen Nachwuchsförderung. Zwar gibt es in Hamburg und Nordrhein-Westfalen bereits Schulversuche; in Mecklenburg-Vorpommern ist Philosophie sogar verbindliches Unterrichtsfach ab dem ersten Schuljahr. An allen anderen Grundschulen bleibt es aber den jeweiligen Lehrern selbst überlassen, ob sie das Engagement für eine philosophische Grundausbildung aufbringen.
Für die Philosophiestunde auf der Oldenburger Kinderbuchmesse hat Müller ein Anschauungsstück mitgebracht – das Buch „Im Zwölfminutenwald“ des Berliner Autors Franz Zauleck. In den Kalendergeschichten um die Linde Rosalinde Tilia Cordata und ihre Freunde Dörte, Holger und Anton geht es um Liebe und Familie, um Träume und Neid, um Alleinsein und Glück. Die Texte sind herrlich skurril und voller Weisheit. Die Zeichnungen sind schlicht, fast wie Kinderzeichnungen, und erzählen die Geschichten auf ihre Weise. Das Buch bietet jede Menge Stoff zum Nachdenken, ideal als Abwechslung für den Unterricht.
Kaum haben sich die Kinder bei Müllers Probestunde „warmphilosophiert“, ist die Zeit aber schon wieder abgelaufen. Viel zu kurz findet zumindest Rieke: „Wir konnten gar nicht soviel sagen.“ Und: „Ich würde gerne nochmal wiederkommen.“
Kristin Hunfeld
Weitere Termine für das „Philosophieren mit Kindern: 10.11. 12.11. und 14.11. jeweils 16 Uhr im Seminarraum des Kulturzentrums PFL.
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