auf der suche nach der deutschen leitkultur*: Eine Recherche der taz und des KulturRadios Lotte in Weimar
„Das in Anspruch genommene Selbstverständliche verliert seine Selbstverständlichkeit“
Bettine Menke, Literaturwissenschaftlerin und Philosophin
Ich frage mich, wer durch den Begriff der deutschen Leitkultur eigentlich adressiert wird. Und: wer spricht für diese eine deutsche Leitkultur? Dass es hier eine Adressierung gibt, scheint mir klar zu sein: Jemand wird angesprochen. Nun gibt es da aber zwei Irritationen. Die eine hängt damit zusammen, dass es in dieser Ansprache irgendwelche projektive „andere“ gibt, die sich leiten lassen sollen. Die zweite Irritation entsteht durch die Zumutung für diejenigen, die diesem fiktiven „wir“ angehören sollen.
Was aber soll das sein, dieses „wir“, dieses „andere“ und diese „deutsche Kultur“? So manches wurde dazu inzwischen aufgerufen: die deutsche Geschichte, das Gedenken der Verbrechen, die deutsche Sprache und Literatur, die deutschen Gebräuche oder – in der Variante „Leitkultur in Deutschland“ – das christlich-jüdische Erbe, gar die antike Philosophie, die zwar niemand kennt, die aber plötzlich alle teilen sollen. Aber natürlich führt das zur Rückfrage: Wer teilt das denn? Gehöre ich dazu?
Denn dieser Appell, der hier in der Adressierung der deutschen Leitkultur gemacht wird, ist natürlich inkonsistent. Wenn da an etwas appelliert wird, was sich für uns von selbst verstehen soll, dann kann es sich ja nicht um ein Wissen handeln – um tradiertes Wissen, das „wir“ alle teilen. Das, was sich von selbst versteht, wäre ja kein Wissen. Und deswegen passiert in diesem Appell etwas Paradoxes: Das in Anspruch genommene Selbstverständliche verliert gerade in diesem Appell seine Selbstverständlichkeit. Es wird zu etwas gemacht, was den anderen gegenüber eingesetzt werden muss. Genau in diesem Moment hat es seine Selbstverständlichkeit schon verloren. Es wird ja im Gegenteil gerade zu etwas, was man durchsetzen muss oder einfordern kann, und führt dadurch sofort zu der irritierten Rückfrage: Haben wir das denn?
* „Zuwanderer müssen sich der deutschen Leitkultur anpassen“ (Friedrich Merz, Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen