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Für sich sprechender Erziehungshorror

Im Schauspielhaus für Leute ab acht: „Struwwwelpeter“ in seiner ganzen Brutalität  ■ Von Karin Liebe

Das sieht verdächtig nach Provinztheater aus: zerschlissener roter Samtvorhang, dahinter Türen und Mobiliar aus angemaltem Pappmaché. Dann noch dieser pathetische Conferencier, der so grässlich theatert. Er bläst die Wangen auf, schreitet gockelhaft über die Bühne und preist wie ein Jahrmarktschreier sein Horrorkabinett unartiger Kinder an. Wo sind wir denn hier?

Im Hamburger Schauspielhaus, bei Struwwwelpeter. Wer bei den drei W an eine Cyber-Fassung von Dr. Heinrich Hoffmanns Gruselbuch über kindliche Verhaltensstörungen denkt und irgendetwas Postmodernes, Medienkritisches, Innovatives erwartet, dem wird eine lange Nase gezeigt. Hi, hi, reingefallen. Die beiden englischen Regisseure Julian Crouch und Phelim McDermott denken gar nicht daran, sich ins World Wide Web einzuloggen. Ihre Inszenierung des deutschen Kinderbuch-Klassikers von 1845 kommt mit einfachsten Mitteln ohne jede Elektronik aus: Mit Puppenspiel, akustischer Livemusik und menschlichen Kulissenschiebern wird der Geist des 19. Jahrhunderts heraufbeschworen.

Und dazu gehört ein autoritärer Erziehungsstil. Alle Kinder, die irgendwie anders sind, bekommen im Original-Struwwelpeter eins um die Ohren: ob Zappelphilipp oder Daumenlutscher, Suppenkasper oder Hans-guck-in-die-Luft. Sie alle müssen sterben, weil sie nicht aufhören zu zappeln und zu lutschen, weil sie nicht brav aufessen und mit den Gedanken immer woanders sind. Heute würde man solche Kinder hypermotorisch, magersüchtig oder autistisch nennen und therapeutisch betreuen – oder einfach so lassen. Autor Dr. Hoffmann, Mitte des 19. Jahrhunderts Direktor der Frankfurter Nervenheilanstalt, dachte sich für seine kleinen Patienten – zumindest in der Phantasie – radikalere Methoden aus. Da werden Daumen mit der großen Schere einfach schnipp schnapp abgeschnitten, da brennt das zündelnde Paulinchen lichterloh, bis nur noch Asche in ihren roten Stiefelchen übrig bleibt, da wird das unerwünschte Monsterbaby Struwwelpeter mit seinem abstehenden Haar und den langen Fingernägeln schleunigst ins Verlies gestopft. Natürlich sind die Daumen auf der Bühne nur aus Stoff und die Flammen unter Paulinchens Kleid nur auf den Unterrock gemalt, doch bei Crouch und McDermott wirkt das so überzeugend, dass es auch Erwachsenen richtig graust.

Es gibt viele eindringliche Szenen, manchmal allerdings langweilt man sich auch. Wenn Kulissenschieber im Schneckentempo Pappmobiliar durch den Raum bewegen, wenn der Conferencier (Alexander Simon) eine Tür nach der anderen öffnet und nichts dahinter ist, schlagen weder Kinder- noch Erwachsenenherzen höher. Für große Momente sorgen allerdings die herzbewegende Musik von Martyn Jacques, Komponist der Tiger Lillies, und die Gesangskünste der hoch gewachsenen Chanteuse Wiebke Puls. Während der Conferencier facettenlos mit großer Geste übertreibt, setzt sie zwischen ihre Unterkühltheit kleine, flirrende Akzente. Ganz hoch schraubt sie dann ihre klare Stimme, die keinen Funken Mitleid versprüht, wenn wieder einmal eins der Kinder verblutet, verbrennt oder ersäuft. Eine zärtliche Glanzleistung ihr ganz zurückgenom-menes Chanson über den fliegenden Robert, der von Herbststürmen in den Himmel hochgeweht wird und auf Nimmerwiedersehen verschwindet.

Und die Moral von der Geschicht? Strafe kleine Kinder nicht. Gerade weil sich die Inszenierung so getreu an den Geist des Originals hält, wird deren brutaler Charakter überdeutlich. Und man wünscht sich, dass Anderssein erlaubt und Erziehung ohne Strafandrohungen praktiziert würde. Egal, ob im viktorianischen Wohnzimmer oder im Kinderzimmer mit Internetanschluss.

weitere Vorstellungen: heute, 18. + 24.11., jeweils 20 Uhr, 23.11., 11 Uhr + 26.11., 18 Uhr, Schauspielhaus

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