Der Daten eingedenk zu bleiben

Der Literaturstreit, der von Claire Goll in den 50er-Jahren gegen Paul Celan angezettelt wurde, ist jetzt von Barbara Wiedemann in einer ungemein gründlichen Textsammlung dokumentiert. Die neunhundert Seiten lesen sich wie ein aufstörendes Drama

von JÜRGEN BUSCHE

Fast tausend Seiten mit Briefen und Notizen, Gedichten und Zeitungsartikeln, Gutachten und Buchauszügen – und immer wieder Fußnoten, Bemerkungen, Verweise quer durch das ganze Buch. Schüchtern fast zum Schluss ein Essay der Herausgeberin Barbara Wiedemann. Ein Fall von Infamie wird dokumentiert und durchleuchtet. Nach Erscheinen des späterhin berühmten Gedichtbandes „Mohn und Gedächtnis“ wurde der Dichter Paul Celan von der Witwe Ivan Golls, Claire Goll, des Plagiats beschuldigt. Er habe sich bei ihrem verstorbenen Mann Bilder und Metaphern abgeguckt. Daran war nichts. Umgekehrt hatte die Witwe sich bei der Herstellung einer postumen Ausgabe von Gedichten ihres Mannes bei Celan bedient. Aber über zehn Jahre hinweg musste sich dieser mit dem Vorwurf und seinen Folgen herumschlagen. Im Verlauf dieses gegen ihn angezettelten Literaturstreits verlor er die meisten seiner bis dahin in Deutschland gewonnenen Freunde. Man muss sagen, dass diese Affäre sein Leben vergiftete, erschütterte, beinahe oder vielleicht am Ende wirklich zerstörte.

Als er 1960 den Büchner-Preis erhielt und auf dieses Ereignis hin die damals schon Jahre alten Vorwürfe wieder hochgekocht wurden, formulierte er seine heute berühmte Dankesrede „Der Meridian“ als Antwort auf mancherlei Unverständnis und skizzierte das, was man die Poetik des zeitgenössischen Gedichts nennen könnte. Es sind historische Daten, die das Leben des Dichters bestimmt haben, und das Gedicht versucht, „solcher Daten eingedenk zu bleiben“. Für Paul Celan sind dies die Daten, die sein Leben und den Tod seiner Eltern in dem von den Deutschen besetzten Teil Europas bestimmt haben.

Celan war 1947 über Bukarest – wo die Kommunisten begannen, die surrealistischen Künstler, die sich dort zusammengefunden hatten, zu bedrängen – nach Wien gekommen. Hier veröffentlichte er Gedichte in einer Zeitschrift. Hier lernte er Ingeborg Bachmann kennen. Aber schon 1948 war er nach Paris gegangen. Er hatte vor dem Krieg in Tours ein Medizinstudium begonnen. Jetzt studierte er Sprachen. Er traf in Paris mit dem Lyriker Yvan Goll zusammen. Goll, seit den frühen Tagen des Expressionismus eine anerkannte Gestalt, lag todkrank in einem Lazarett und empfing nun viele Besuche seines jungen Bewunderers; es entstand in den Monaten, die er noch zu leben hatte, eine enge Freundschaft mit Celan, in die auch Golls Frau Claire einbezogen war.

Schlimme Feindschaft

Nach dem Tod Golls kam es jedoch zu einer Verstimmtheit zwischen Celan und Claire Goll, dann zu einem Zerwürfnis, schließlich zu schlimmer Feindschaft. Celan hatte Golls französische Gedichte übersetzen sollen, doch das Ergebnis seiner Arbeit missfiel der Witwe. Claire Goll ging daran, die letzten auf Deutsch geschriebenen Gedichte ihres verstorbenen Mannes herauszugeben, die später unter dem Titel „Traumkraut“ erschienen. Und in diesen Gedichten erinnert manches Bild und manche Wendung an Paul Celan.

Das fiel auf, und Claire Goll beschuldigte sogleich Celan, den todkranken Dichter geistig bestohlen zu haben. Das tat sie an erster Stelle in einem Rundbrief an wichtige Persönlichkeiten des westdeutschen Kulturbetriebs. Die Reaktionen waren unterschiedlich. Man glaubte ihr, man zeigte sich vorsichtig, man ließ sich nicht darauf ein. Immerhin, für einen Schriftsteller in Paris, weitab von allen Kantinengesprächen und Akademiezusammenkünften, entstand eine für künftige Publikationschancen gefährliche Lage. Es brauchte lange, bis aufgeklärt war, wie der Sachverhalt aussah.

Was die Sache anging, da konnte sich freilich Celan von Anfang an auf sicherem Boden fühlen. Sein inkriminierter, 1952 erschienener Gedichtband „Mohn und Gedächtnis“ enthielt viele Stücke – darunter die „Todesfuge“ – aus dem schon 1948 in Wien herausgekommenen Band „Der Sand aus den Urnen“. Dieses Büchlein indes war von so vielen Druckfehlern entstellt, dass Celan darauf bestanden hatte, es einstampfen zu lassen. Nur wenige Exemplare blieben übrig. Eines davon hatte der Dichter Yvan Goll bei dem ersten Besuch zum Geschenk gemacht, irgendwann einmal aber wieder an sich genommen. So war es ein Leichtes, den Nachweis zu führen, dass Celan unabhängig von Goll zu seiner Dichtersprache gefunden hatte. Später erwies es sich, dass Claire Goll den Nachlass ihres Mannes dahingehend manipuliert hatte, dass nun plötzlich Zeilen von Goll als Vorbilder für die Ausdrucksweise Celans wirkten. Der Bestohlene wurde durch Umschreiben und Umdatieren als der Dieb hingestellt.

Kurz vor der Verleihung des Büchner-Preises an Celan wurde die Sache noch einmal mit Aplomb bekannt gemacht, als junge Germanisten, die wissenschaftlich über Goll arbeiteten und sich durch Gefälligkeiten gegenüber der Witwe den Zugang zum Nachlass erleichtern wollten, mit entsprechenden Artikeln in die Öffentlichkeit traten. Es geschah dies zu einer Zeit, in der die Bundesrepublik sich mit Hakenkreuzschmierereien zu befassen hatte, die darauf hindeuteten, wie umtriebig die rechtsradikale Szene noch war. Celan war hierüber sehr beunruhigt. Und er sah einen Zusammenhang zwischen diesen anonymen Pöbeleien gegen die Juden allgemein und dem, was ihm im Feuilleton vieler deutscher Blätter widerfuhr.

Falscher Ton

Nimmt man einzelne, wenige respektable Stimmen aus, dann kann man zu dem Urteil gelangen, dass Celans Befremdetsein, Irritiertsein, schließlich seine Bestürzung nicht unbegründet waren. Das galt sowohl gegenüber Autoren, denen er schon von ihrer Vergangenheit her und wegen ihrer politischen Orientierung Feindseligkeit zutraute, als auch gegenüber jenen, die auf diese oder jene Weise meinten, ihm in dem Streit beizuspringen, ihn tatsächlich aber durch verheerende Missverständnisse oder manchen falschen Ton verletzten. Die besten Namen der Literatur und der Literaturkritik jener Zeit finden sich da, Rühmkorf, Hohoff, Holthusen, Clemens Heselhaus, Martini und Blöcker.

Grob nachgezeichnet gab es zwei Linien, auf denen sich die Argumentation bewegte – und zwar im Zustimmenden wie im Ablehnenden, was Celans dichterische Leistung betrifft. Die konservative Argumentation lief darauf hinaus, dass der junge Mann ein bemerkenswerter Artist sei, der, so die einen, längst über Goll hinausgewachsen sei, wenn es denn überhaupt Beeinflussung gebe, oder: Er sei ein virtuoser Meister der Sprachspiele, dessen Worte, Bilder und Metaphern jedoch beliebig seien, wirklichkeitsleer, späterhin sogar unverständlich. In beiden Interpretationsmustern erkannte Celan das Fortwirken antisemitischer Klischees. Dass Juden in der Kunst lediglich Nachahmer, nicht aber Schöpfer von Neuem seien, war seit Richard Wagners Pamphlet über das „Judentum in der Musik“ ein gängiges Stereotyp.

Zum anderen: Mit der Behauptung von Beliebigkeit und Wirklichkeitsferne wurde Celan gerade das abgesprochen, was ihm wichtig war: Die Bezogenheit seiner Gedichte auf die historischen Daten seines Lebens. Hierin sah Celan eine latent antisemitische – sich gelegentlich in Philosemitismus tarnende, vielleicht sogar sich selbst so missverstehende – Tendenz am Werke, durch Ausblendung der historischen Wirklichkeit des Mordes an den europäischen Juden für das neue deutsche Selbstbewusstsein das Terrain möglichst unverfänglich zu gestalten. Worüber man schweigt, darüber braucht man nicht zu reden, und dem, der es doch tut, wird der Wirklichkeitsbezug abgesprochen. Dem Dichter wird die Kunst zur Falle, seine Worte können tendenziös umgedeutet werden.

Auf der anderen Seite, dort, wo Celan seine Freunde hatte oder vermutete, ging es ihm kaum besser. Zwar gab es Beispiele von spontanem und beherztem Eintreten für den Verleumdeten. Doch allmählich setzten sich auch hier Argumentationsmuster durch, die ihm nicht gefallen konnten. Jene, die sein Werk bewunderten, rieten ihm, die Sache nicht so wichtig zu nehmen, die Vorgänge nicht aufzubauschen. Sie ignorierten damit die Bedeutung des Zusammenhangs von Lebensdaten und Gedichten, die für Celan zentral war.

Bald sah er sich von diesen Helfern als überempfindlich und psychisch überfordert dargestellt und wie auch immer nachsichtig in isolierende Distanz fortgeschoben. Celan hatte das Gefühl, er werde in seiner Situation nicht ernst genommen. Dass er dazu Grund hatte – bei aller Zuneigung, mit der man ihn behandelte – steht, wegen der aktuellen Dinge, die ihm und anderen Juden begegneten, außer Zweifel. Es waren hart gesottene Burschen, jene jungen, sich zur Linken rechnenden Kriegsheimkehrer des Obergefreitenmilieus oder mit Flakhelfermentalität, die darangingen, den literarischen Betrieb für sich zu erobern.

Antisemitisches Motiv

Es wollten jene Leute auch eine andere Literatur als die, in der Celan den Ort seiner Gedichte sah. Deshalb war er ja auch 1952 beim Treffen der Gruppe 47 in Niendorf beinahe durchgefallen. Deshalb blieb das Verhältnis der Gruppe zu Celan stets prekär – um das Mildeste zu sagen. Er war ihnen zu weihevoll, zu pathetisch, zu feierlich, gerade auch in der Art seiner Auftritte. Und von dieser Abneigung her geriet auch die linke Kritik an Celan rasch in die Nähe alter Klischees. Peter Rühmkorf zählte in einem programmatischen Text die Schlüsselworte von Celans Gedichten auf, nannte sie allzu gebräuchlich und bezeichnete sie abwertend als „Nachschlüssel“, womit wieder auf das Nachahmertum jüdischer Künstler verwiesen war. Mag man auch Rühmkorf ein antisemitisches Motiv in der Polemik gegen Celan nicht unterstellen – die fehlende Sensibilität des Lyriker-Kollegen – wohlgemerkt: nach dem Plagiatstreit – ist schon schockierend.

Celan, der als Schüler in Czernowitz bei Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs für die Rote Hilfe gearbeitet hatte, der sich später in Karl Marx vertiefte, und der nach dem Krieg Sozialisten als seine natürlichen Freunde und Verbündeten ansah, wandte sich in den 60er-Jahren mehr und mehr von der Linken ab. Das letzte Kapitel seines Lebens bildet die von Enttäuschungen und Hoffnungen begleitete Annäherung an den Freiburger Philosophen Martin Heidegger.

Aber in das Schlussbild seines Lebens, das durch Freitod in der Seine endete, gehört wieder der Schatten eines Plagiatvorwurfs. Noch in der Bukowina hatte ein Schulkamerad, Immanuel Weißglas, ein Gedicht geschrieben, das, formal unbedeutend, vom Inhalt her Ähnlichkeiten mit der Todesfuge aufweist. Ob und wie es Celan 1970 zur Kenntnis gelangte, ist ungeklärt. Vorstellbar aber ist, dass er fürchtete, einen neuerlichen Streit um sein berühmtestes Gedicht nicht mehr durchstehen zu können.

Barbara Wiedemann (Hg.): „Paul Celan – Die Goll-Affäre“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2000, 928 Seiten,geb. 160 DM, kartoniert 98 DM