piwik no script img

Venusfalle am glamourösen Abgrund

Betörende Überblendungen verstörender Schönheiten: Die Performance „23.28 – Ein dramatischer Tango“ im Dock 11

Stammkunden werden sich erinnern: das kühle Inventar, die raffiniert pastell gefärbte Beleuchtung transparenter Wände, ein dezenter Beat und schlichte Kleiderstangen, auf denen sich Modekollektionen reihen. Von einem Mango-Shop unterscheiden die Bühne, die Matthias Schaller im Dock 11 eingerichtet hat, eigentlich nur die steile Gerüstkonstruktion und ein Mikrofon, vor das zu Anfang nacheinander treten: Marie Leuner (Nicole Coulibaly), verdächtigt des Mordes an ihren Eltern, ihrer Schwester, der besten Freundin und ihres Ehemanns. Mark Leuner (Matthias Friedrich) besagter Gatte. Lotte (Uta Wollenberg) die tote Freundin. Und Kommissar Brix (Robert Schupp) ihr Geliebter. Der ermittelt.

„23.28 – Ein dramatischer Tango“ zeigt in der Regie der gebürtigen Rumänin Siegmar Zacharias das betörend und verstörend Schöne in komplizierten Vor-, Rück- und Übereinanderblenden, begleitet von zitternden Videoprojektionen und Elektrojazz (am Schlagzeug: Steven Heather). Dreimal schlüpft die makellose Nicole Coulibaly ins selbe golddurchwirkte Abendkleid, und dreimal rutscht der Saum zwei Handbreit höher. Was wird entblößt? Marie begegnet Mark und schaukelt in roten Rosen, nach einer Party erschießt sie ihn. Sie fährt mit Lotte in die Alpen und lässt die Freundin beim Klettern an irgendeiner Nordwand krepieren. Sie sitzt flirtend mit dem Commissario im Auto, auf dem Weg zur Identifizierung der mütterlichen Leiche. Venus Fliegenfalle. Anna Mombers kurzer, dichter Theatertext, der im vergangenen Jahr bei den Autorentheatertagen in Hannover Aufsehen erregte, zaubert keinen guten Grund aus dem Hut, weder Missbrauchsgeschichte noch Kindheitstrauma, der den Amoklauf von Marie Leuner erklären könnte.

„So hört sich das also an, wenn ein Mensch aufschlägt. Klarheit. Wunderbare Klarheit“, flüstert Coulibaly ins Mikrofon, gerade noch neugierig und fast schon verzweifelt. German Psycho, und doch keine feminine Ausgabe von Patrick Bateman, denn Marie Leuners Schizophrenie schließt einen Hauch von Ungelenkheit, von Schmerz und Furcht und reflektierter Schuld ein. Wie harmlose Kinder umstehn ihre Opfer diesen glamourösen Abgrund, der sich bis zum Schluss nicht schließen will.

Die Inszenierung von „fishing enterprise“, einem projektbezogenen Zusammenschluss junger Theatermacher, gerät zwar manchmal zum nur noch ästhetischen Whirlpool, wenn alle Register forscher Performancekunst zugleich gezogen, plötzlich Karaoke-Situationen und Tanzschritte am Rande hinzudekoriert werden müssen und eine bemüht medienkritische Ebene konstruiert wird. Dann wieder zeigt sie ihr Rätsel in Bildern und Klängen von überwältigend kühler Sinnlichkeit. Die blickfangende, beinahe hypnotisierende Spinne im Netz bleibt ohnehin Nicole Coulibaly. Ihr glaubt man jede Verführung, jeden Wahn und jede Träne – bloß das Morden nicht. Der alte Trick des schönen Bösen. EVA BEHRENDT

Weitere Aufführungen: 16. bis18. November, 20.30 Uhr im Dock 11,Kastanienallee 79, Prenzlauer Berg

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen